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Arthur Schopenhauer

zur Idealität von Raum und Zeit

Die Idealität von Raum und Zeit ist der Schlüssel
zu aller wahren Metaphysik .

Arthur Schopenhauer (P II, 304)

Idealität hat in Arthur Schopenhauers Philosophie eine andere Bedeutung als der im allgemeinen Sprachgebrauch verwendete Begriff Idealismus.

In Anlehnung an Kants Philosophie gebrauchte Schopenhauer das Wort  Idealität im Zusammenhang mit der Tatsache, dass jede Wahrnehmung abhängt von der Beschaffenheit der Wahrnehmungsorgane, also vor allem des Gehirns, und der hierbei geltenden biologischen Gesetzmäßigkeiten. Das bedeutet, dass die Welt, wie sie mit den Sinnen wahrgenommen wird, d. h., wie sie in der Anschauung dem Anschauenden erscheint, nur eine  Vorstellung des Anschauenden ist, also dass dieser nicht wahrnimmt, wie die Welt an sich ( Ding an sich ) ist.

Laut Kants Kritik der reinen Vernunft, die für Schopenhauers Philosophie von grundlegender Bedeutung ist, sind Raum und Zeit sowie Kausalität lediglich Anschauungsformen. Sie sind bereits vor aller Anschauung, also von vornherein (apriori), als Funktionen des Gehirns angelegt (s. dazu auch > Individuation). Idealität von Raum und Zeit bedeutet also,  dass Raum und Zeit als Gehirnfunktionen zwar das Ergebnis der empirischen Anschauung bestimmen, aber sich nicht selbst (weil bereits von vorherein vorhanden) aus der Anschauung ergeben. 

Das mit den Sinnen Aufgenommene erscheint mittels der Gehirnfunktionen als etwas, das von Kant Erscheinung und von Schopenhauer Vorstellung genannt wurde. Somit werden, wie oben erwähnt, die Dinge nur wahrgenommen, wie sie aufgrund der Gehirnfunktionen erscheinen und nicht wie sie an sich sind. Auf diesem von Kant nachgewiesenen Zusammenhang und der damit verbundenen strikten Unterscheidung zwischen Erscheinung bzw. Vorstellung und dem Ding an sich  beruhen die wesentlichen Aussagen von Schopenhauers Erkenntnislehre, welche ohne die eben kurz begründete Idealität von Raum und Zeit nicht zu verstehen ist.

Alles in der Welt erscheint neben- und nacheinander in Raum und Zeit als Vielheit ( principium individuationis ). Wenn aber  Raum und Zeit lediglich Gehirnfunktionen sind, dann ist alle wahrgenommene Vielheit bloß  ein Gehirnphänomen.  Was aber nicht durch Raum und Zeit (sowie Kausalität) bedingt ist, wäre demnach nicht Vielheit, sondern Einheit, die Schopenhauer Wille nannte (Kants  Ding an sich ).

So kam Schopenhauer in Anlehnung an Kant zu einer idealististischen, monistischen Philosophie, die im Ergebnis den Lehren des Mahayana-Buddhismus, insbesondere des ZEN, und des altidischen, von Shankara geprägten Advaita-Vedanta ähnelt, ja wahrscheinlich sogar letztlich mit ihnen übereinstimmt.

Arthur Schopenhauers überaus bedeutsame philosophische Leistung besteht somit auch darin, dass durch sie eine Brücke geschaffen wurde zwischen der an Kant orientierten westlichen Philosophie und den spirituellen Erkenntnissen des alten Indiens!
(Weiteres zum Thema Schopenhauers Philosophie und  Indien Upanishaden  und  >  Buddhismus .)

.......

Die folgende Darstellung ist aus dem Schopenhauer-Lexikon von Julius Frauenstädt (2. Band, Leipzig 1871, Stichworte: Raum und Zeit , 257 f. und 485):

Zur Idealität des Raumes

“Der einleuchtendste und zugleich einfachste Beweis der Idealität des Raumes ist, dass wir den Raum nicht, wie alles Andere, in Gedanken aufheben können. Bloß ausleeren können wir ihn. Aber ihn selbst können wir auf keine Weise los werden. Was wir auch tun, wohin wir uns auch stellen mögen, er ist da und hat nirgends ein Ende; denn er liegt allem unserm Vorstellen zu Grunde und ist die erste Bedingung desselben. Dies beweist ganz sicher, dass er unserm Intellekt selbst angehört, ein integrierender Teil desselben ist und zwar der, welcher den ersten Grundfaden zum Gewebe desselben, auf welches danach die bunte Objekten-Welt aufgetragen wird, liefert. Ist nun aber der Raum offenbar eine Funktion, ja eine Grundfunktion unseres Intellekts selbst; so erstreckt sich die hieraus folgende Idealität auch auf alles Räumliche, sofern es räumlich ist, also sofern es Gestalt, Größe und Bewegung hat. Auch die so genauen und richtig zutreffenden astronomischen Berechnungen sind nur dadurch möglich, dass der Raum eigentlich in unserm Kopfe ist. Dass der Kopf im Raume sei, hält ihn nicht ab, einzusehen, dass der Raum doch nur im Kopfe ist. (P II, 46 fg.; I, 18 fg. G 82.
W II, 37-40 und 55, Tafel der Praedicabilia a priori
des Raumes. N. Vorrede XIII-XVI. H. 329.)” *

Zur Idealität der Zeit

“Die von Kant entdeckte Idealität der Zeit hat schon einen genügenden Beweis an der gänzlichen Unmöglichkeit, sie hinwegzudenken, während man Alles, was in ihr sich darstellt, sehr leicht hinwegdenkt. (W II, 37.) Die Idealität der Zeit ist eigentlich schon in dem, der Mechanik angehörenden Gesetze der Trägheit enthalten, welches im Grunde besagt, dass die bloße Zeit keine physische Wirkung hervorzubringen vermag, daher sie, für sich allein, an der Ruhe oder Bewegung eines Körpers nichts ändert. Schon hieraus ergibt sich, dass sie kein physisch Reales, sondern ein transzendental Ideales sei, d. h. nicht in den Dingen, sondern im erkennenden Subjekt ihren Ursprung habe. (P II, 41 fg.)

Dass die Zeit überall und in allen Köpfen vollkommen gleichmäßig fortläuft, ließe sich sehr wohl begreifen, wenn dieselbe etwas rein Äußerliches, Objektives, durch die Sinne Wahrnehmbares wäre, wie die Körper. Aber das ist sie nicht. Auch ist sie keineswegs die bloße Bewegung oder sonstige Veränderung der Körper; diese vielmehr ist in der Zeit, welche also von ihr schon als Bedingung vorausgesetzt wird; denn die Uhr geht zu schnell, oder zu langsam, aber nicht mit ihr die Zeit, sondern das Gleichmäßige und Normale, worauf jenes Schnell und Langsam sich bezieht, ist der wirkliche Lauf der Zeit. Die Uhr misst die Zeit, aber sie macht sie nicht. Wenn alle Uhren stehen blieben, wenn die Sonne selbst stillstände, wenn alle und jede Bewegung oder Veränderung stockte; so würde dies doch den Lauf der Zeit keinen Augenblick hemmen, sondern sie würde ihren gleichmäßigen Gang fortsetzen und nun, ohne von Veränderungen begleitet zu sein, verfließen. Dabei ist sie dennoch nichts Wahrnehmbares, nichts äußerlich, objektiv Gegebenes. Da bleibt keine andere Annahme übrig, als dass sie in uns liege, unser eigener, ungestört fortschreitender mentaler Prozess, die Form unseres Vorstellens sei. (P II, 43 fg.; I, 108. W II, 40.)”

Zur Idealität der Zeit und ihre Bedeutung für die Metaphysik schrieb Arthur Schopenhauer mit Hinweis auf Kant: “Man ist mit Einem Male, zu seiner Verwunderung, da, nachdem man, zahllose Jahrtausende hindurch, nicht gewesen, und, nach einer kurzen Zeit, eben so lange wieder nicht zu seyn hat. - Das ist nimmermehr richtig, sagt das Herz: und selbst dem rohen Verstande muß aus Betrachtung dieser Art eine Ahnung der Idealität der Zeit aufgehn. Diese aber, nebst der des Raumes, ist der Schlüssel zu aller wahren Metaphysik ; weil durch dieselbe für eine ganz andere Ordnung der Dinge, als in der Natur ist, Platz gewonnen wird.” ( P II,  303 f.)**

S. auch
    >  Zeit - Raum - Kausalität : Der Satz  vom Grunde


Anmerkungen

* Trotz Idealität des Raumes  gilt Schopenhauers Satz: “Zwar ist der Raum nur in meinem Kopf; aber empirisch [meiner Erfahrung nach] ist mein Kopf im Raum”
(W II,  22).
Dieses hier aufgeworfene Problem erinnert an das Gehirnparadox im Zellerschen Zirkel, wonach laut Schopenhauers Philosophie das Gehirn, wie alle Vielfalt in dieser Welt, nur eine Erscheinung des (metaphysischen) Willens und somit bloß eine Vorstellung sei, doch anderseits entsteht diese Vorstellung im Gehirn, welches aber selbst nur eine Vorstellung ist. Zur möglichen Lösung dieses grundsätzlichen Problems s. > hier.

**Der obige Hinweis Schopenhauers auf die Metaphysik ist auch deshalb bedeutsam, weil Schopenhauer die Magie als praktische  Metaphysik  bezeichnete. Deshalb wird in Frauenstädts Schopenhauer-Lexikon (a. a. O., S. 258) mit Recht auf “das Hellsehen als eine Bestätigung der Idealität des Raumes” und auf Schopenhauer-Zitate zum Thema Magie verwiesen.

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