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Arthur Schopenhauer

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Von Kant über Schopenhauer

zu den Upanishaden

Zum Entstehen seiner Philosophie schrieb  Arthur Schopenhauer:

Ich glaube nicht, daß meine Lehre je hätte entstehn können, ehe die Upanischaden, Plato und Kant ihre Strahlen zugleich in eines Menschen Geist werfen konnten.(1)

Jedoch nicht nur diese von Schopenhauer genannten Quellen sind für seine Philosophie bedeutsam, denn wie Heinrich Hasse in seinem vortrefflichen Buch über das Leben und Werk Schopenhauers bemerkte:

Die geschichtlichen Grundlagen der Philosophie Schopenhauers sind in ihrer Gesamtheit ziemlich verwickelter Natur und lassen sich nicht einseitig begrenzen. [...] Fließt doch in dieser Philosophie das geistige Erbe Indiens, Platons und Spinozas mit der verstandeskühlen Hinterlassenschaft der Aufklärung und dem ahnenden Suchen der Romantik zu einer Originalschöpfung großen Stils zusammen.(2

Nach dieser einleitenden Bemerkung wies Hasse auf die besondere Bedeutung hin, welche Kant für Schopenhauers Philosophie hat:

So mannigfach aber auch die historischen Voraussetzungen gestaltet sein mögen, auf denen Schopenhauers philosophisches Lebenswerk ruht - alle geschichtlichen Zusammenhänge treten zurück hinter einem, durch welchen nicht allein historisch, sondern zugleich sachlich die entscheidenden Grundlagen der Philosophie Schopenhauers gegeben sind. Das ist die Beziehung zur Philosophie Kants. An Kant unmittelbar anknüpfend, erhebt Schopenhauer den kühnen Anspruch, mit seiner Lehre die Ergebnisse des großen Vorgängers sinngemäß weiterzuführen und folgerichtig zu Ende zu denken. Als Ergebnis stellt er in Aussicht: eine Lösung der von Kant der Nachwelt hinterlassenen Rätsel innerhalb der Schranken des menschlichen Intellekts.(3)

Hierbei knüpfte Schopenhauer vor allem an Kants Kritik der reinen Vernunft - und dort besonders an die Erkenntnistheorie - an. Unter dem Stichwort Kant erklärt dazu das Philosophische Wörterbuch:

Die Erkenntnistheorie ist die ”Grenzpolizei” gegen alle Annahmen und Grenzüberschreitungen über das Erfahrbare hinaus, die sich die reine Vernunft zu Erkenntniszwecken zuschulden kommen läßt. Denn Erkenntnisse beruhen nach Kant einzig und allein auf Erfahrung, auf Sinneswahrnehmung. Die Sinne allein geben uns Kunde von einer realen Außenwelt. 

Wenn aber auch unsere sämtliche Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt, so entspringt sie doch nicht vollständig der Erfahrung. Sie wird vielmehr geformt durch die im erkennenden Geiste vor und unabhängig, von aller Erfahrung, d.h. apriori [von vornherein], bereitliegenden Anschauungsformen des Raumes und der Zeit und die Denk- und Verstandesformen der Kategorien (4), deren Erforschung von Kant transzendental genannt wird.

Freilich geht, nach Kant, auch die durch Erfahrung gegründete Erkenntnis nicht auf die Dinge an sich, sondern nur auf deren Erscheinungen (Phänomene).(5)

Das Ding an sich, so erläutert das Philosophische Wörterbuch, sei nach Kants “Kritik der reinen Vernunft”,das Ding, wie es unabhängig von einem erkennenden Subjekt für sich selbst besteht. Das “wahre” Sein, dessen “Erscheinungen” die empirischen Dinge sind, auf welches eben die “Erscheinungen” hinweisen. Wir erkennen ein Ding als Gegenstand unserer Wahrnehmung nur so, wie es uns - eingekleidet  in die Anschauungsformen von Raum und Zeit, in die Kategorien und Verstandesgesetze - so erscheint; wie es “an sich” beschaffen ist, werden wir niemals erkennen.(6)

Diese Erkenntnislehre Kants, die zum Ausgangspunkt von Schopenhauers Philosophie wurde, fasste Schopenhauer so zusammen:

Wir erkennen die Dinge nicht, wie sie an sich sind, sondern nur wie sie erscheinen. Dies ist des großen Kants große Lehre. (7)

Jedoch Erkentnisse sind aus Sinnesempfindungen  allein, also etwa durch das bloße Wahrnehmen von Lichtpunkten und Tönen, nicht zu gewinnen. Sie müssen in einen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang gebracht werden. Deshalb hat es die Natur so eingerichtet, dass im Gehirn - laut Kant - Raum und Zeit als “Anschauungsformen” a priori,  das heißt vor aller Erfahrung, verankert sind.(8)

Diese Aussage Kants ist von weitreichender Bedeutung, denn sie führt zu einer Alleinheitslehre, wie sie zum Beispiel schon viele Jahrhunderte vor Kant in den altindischen Upanishaden zu finden ist. Arthur Schopenhauer schrieb dazu in seiner Preisschrift über die Grundlage der Moral:

Worauf beruht alle Vielheit und numerische Verschiedenheit der Wesen? - Auf Raum und Zeit: durch diese allein ist sie möglich; da das Viele sich nur entweder als neben einander, oder als nach einander denken und vorstellen läßt. Weil nun das  gleichartige Viele die Individuen sind; so nenne ich Raum und Zeit, in der Hinsicht, daß sie die Vielheit möglich machen, das principium individuationis [den Seinsgrund der Einzelwesen], unbekümmert, ob dies genau der Sinn sei, in welchem die Scholastiker diesen Ausdruck nahmen.

Wenn an den Aufschlüssen, welche Kants bewunderungswürdiger Tiefsinn der Welt gegeben hat, irgend   etwas unbezweifelt wahr ist, so ist es die transscendentale Aesthetik , also die Lehre von der Idealität des Raumes und der Zeit. Sie ist so klar begründet, daß kein irgend scheinbarer Einwand dagegen hat aufgetrieben werden können. Sie ist Kants Triumph und gehört zu den höchst wenigen metaphysischen Lehren, die man als wirklich bewiesen und als eigentliche Eroberungen im Felde der Metaphysik ansehn kann.

Nach ihr also sind Raum und Zeit die Formen unsers eigenen Anschauungsvermögens, gehören diesem, nicht den dadurch erkannten Dingen an, können also nimmermehr eine Bestimmung der Dinge an sich selbst seyn; sondern kommen nur der Erscheinung derselben zu, wie solche in unserm, an physiologische Bedingungen gebundenen Bewußtseyn der Außenwelt allein möglich ist. Ist aber dem Dinge an sich, d. h. dem wahren Wesen der Welt, Zeit und Raum fremd; so ist es nothwendig auch die Vielheit : folglich kann dasselbe in den zahllosen Erscheinungen dieser Sinnenwelt doch nur Eines seyn, und nur das Eine und identische Wesen sich in diesen allen manifestiren. Und umgekehrt, was sich als ein Vieles , mithin in Zeit und Raum darstellt, kann nicht Ding an sich, sondern nur Erscheinung seyn. Diese aber ist, als solche, bloß für unser durch vielerlei Bedingungen beschränktes, ja, auf einer organischen Funktion beruhendes Bewußtseyn vorhanden, nicht außer demselben.

Diese Lehre, daß alle Vielheit nur scheinbar sei, daß in allen Individuen dieser Welt, in so unendlidıer Zahl sie auch, nach und neben einander, sich darstellen, doch nur Eines und das selbe, in ihnen allen gegenwärtige und identische, wahrhaft seiende Wesen sich manifestire, diese Lehre ist freilich lange vor Kant , ja, man möchte sagen von jeher dagewesen. Denn zuvörderst ist sie die Haupt- und Grundlehre des ältesten Buches der Welt, der heiligen Veden , deren dogmatischer Theil, oder vielmehr esoterische Lehre, uns in den Upanischaden vorliegt. Daselbst finden wir fast auf jeder Seite jene große Lehre: sie wird unermüdlich, in zahllosen Wendungen wiederholt und durch mannigfaltige Bilder und Gleichnisse erläutert.(9)

Es gehört zu Arthur Schopenhauers genialer Leistung, dass er über Kants Lehre einen Weg zum besseren Verständnis der Alleinheitslehre in den Upanishaden aufzeigte und darüber hinaus Kants Philsophie  wesentlich erweiterte. (10) Hierzu erläuterte Heinrich Hasse in der Einleitung zu seinem bereits erwähnten Werk:

Hatte er [Kant] nicht, wenn auch nur andeutungsweise, die intelligible Natur des Menschen, das Wesen des Menschen “an sich” als willensartig bestimmt?(11) Sollte etwa diese Bestimmung den Hinweis enthalten zur Lösung des großen Rätsels, welches die Lehre Kants hinterlassen hatte? Sollte vielleicht die “innere”  Erfahrung mit ihrem unräumlich-eigenartigen Bestand als Wille die Quelle sein, aus welcher Aufschluß über den unerfahrbaren Kern aller empirischen Erscheinungen zu schöpfen ist, ein Aufschluß, der positiv Entscheidendes zu leisten verspricht, ohne den Grundergebnissen der Kantischen Erkenntnislehre zu widerstreiten? Kein anderer als Arthur Schopenhauer ist es , der diese Frage bejaht ... (12)

Schopenhauer bejahte nicht nur die eben gestellte Frage, sondern beantwortete sie in seiner Philosophie, welche die grundlegende Aussage enthält, dass Kants  Ding an sich der metaphysische Wille sei, wobei alles, was empirisch wahrge- nommen wird, nur Erscheinungen dieses Willens sind.(13) 

Bei der Erweiterung der Philosophie Kants durch Arthur Schopenhauer war von wesentlicher  Bedeutung die “innere” Erfahrung, auf die Hasse - wie oben zitiert -  hinwies.  Ob Kant über eine solche Erfahung verfügte, ist zweifelhaft. Jedenfalls meinte Schopenhauer schon in seinen frühesten Aufzeichnungen (1810): Es ist vielleicht der beste Ausdruck für Kants Mängel, wenn man sagt: er hat die Kontemplation nicht gekannt.(14)

  Schopenhauers Hinweis auf den bei Kant gänzlichen Mangel an Kontemplation ist auch deshalb bedeutsam, weil, wie aus seinem handschriftlichem Nachlass hervorgeht, der Philosophie  Schopenhauers  auch eigene kontemplative, ja geradezu mystische Erfahrungen zugrunde liegen.(15) So konnte Schopenhauer seine Philosophie  sogar als Offenbarung bezeichnen. (16) 

Andererseits achtete  Schopenhauer darauf, die ihm als Philosophen gesetzten Grenzen nicht zu überschreiten, denn, so Hasse über Schopenhauer:  Ebenbürtig steht dem kühnen Drange nach Enträtselung der Wirklichkeit das kritische Gewissen zur Seite, das, durch Kant geschult, die Frage erkenntnis- theoretischer Berechtigung des Behaupteten nicht aus dem Auge verliert und bei alle Kühnheit der metaphysischen Ansprüche den Höhenflug des Gedankens nicht ungebändigt läßt.(17)

Wer dennoch über diese Grenzen hinaus nach Erkenntnis sucht, den verwies Schopenhauer vor allem auf die altindischen Upanishaden. Nicht Kant, von dessen Lehre er  viel  in seine Philosophie übernahm, sondern die Lektüre des Oupnekhat , das heißt der Upanishaden, war für Arthur Schopenhauer der Trost meines Lebens gewesen und wird der meines Sterbens sein.(18) 


Anmerkungen

(1) Arthur Schopenhauer , Der handschriftliche Nachlaß in fünf Bänden. Hrsg. v. Arthur Hübscher, Bd. 1, München 1985, S. 422.

(2) Heinrich Hasse , Schopenhauer , München 1926, S. 11.

(3) Ebd.

(4)  Unter Kategorien verstand Kant “die Formen des Verstandes, welche die Erfahrung insofern bedingen, als sie der bloßen Wahrneh- mung Erkenntnischarakter verleihen, für sich allein, also ohne Erfahrung der Wahrnehmung, jedoch keinerlei Erkenntniswert haben” (Philosophisches Wörterbuch, begr. v. Heinrich Schmidt, neu bearb. v. Georgi Schischkoff, 21. Aufl., Stuttgart 1982, S. 352) . 

(5) Philosophisches Wörterbuch, a. a. O.,  S. 347.

(6) Philosophisches Wörterbuch, a. a. O., S. 131.

(7) Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe,
Werke in zehn Bänden, Band IX,
Parerga und Paralipomena II, Zürich 1977, S. 53.

(8) Anschauungsformen “ im Sinne Kants sind Raum und Zeit, worin sich die Empfindungen ordnen; sie sind ´die im Gemüt bereitliegenden Formen` unserer sinnlichen Anschauung a priori, unabhängig von Erfahrung, diese vielmehr erst ermöglichend”
(Philosophisches Wörterbuch, a. a. O., S. 27).

(9) Arthur Schopenhauer , a. a. O., Band VI, S. 308 f.

(10) S. dazu auch Heinrich Zimmer, Philosophie und Religion Indiens, Zürich 1973, S. 403 und Hermann Oldenberg, Die Lehre der Upanishaden und die Anfänge des Buddhismus, 2. Aufl., Göttingen 1923, S. 171 f.

(11) Der hier verwendete Begriff intelligible Natur des Menschen steht im Zusammenhang mit der in Anlehnung an Kant von Schopenhauer dargelegten Lehre vom intelligiblen Charakter als Wille des Menschen an sich  (Weiteres > dort).
Zu seiner Formulierung willensartig bestimmt bezog sich Hasse auf  Schopenhauers Worte: Ich nehme daher wirklich an, obwohl es nicht zu beweisen ist, daß Kant, so oft er vom Ding an sich redete, in der dunkelsten Tiefe seines Geistes, immer schon den Willen undeutlich dachte. (Arthur Schopenhauer , a. a. O., Band II,  Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 616.)

(12) Heinrich Hasse , a. a. O., S. 16.

(13) Zum besseren Verständnis s. auch > dort.

(14) Arthur Schopenhauer, Nachlaß, a. a. O., S. 13.
Obwohl Schopenhauer die Philosophie Kants außerordentlich schätzte, kritisierte er sie ausführlich und tief begründet in seinen Werken.  So enthält Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung im Anhang des ersten Bandes eine umfangreiche Kritik der Kantischen Philosophie. Sehr umfangreich ist auch der Abschnitt Kritik des von Kant der Ethik gegebenen Fundaments in Schopenhauers Preisschrift über die Grundlage der Moral. Besonders entschieden wandte sich Schopenhauer dort gegen Kants ethische Einstellung zu den Tieren, die er als “empörend und abscheulich” empfand:
> Arthur Schopenhauer : Kant und die Tierethik .

(15) Daher dürfte es verständlich sein, dass, wie Hermann Oldenberg (a. a. O. , S. 171 f.) schrieb, den großen westlichen Mystikern die Upanishaden weit näher stehen als Kants Vernunftskritik: “Zwischen [...] der Mystik und den Upanishaden drängen sich, wohin man nur sieht, die weitgehenden, tiefgreifenden Parallelen auf. Und wenn Schopenhauer den Gleichklang seines eigenen Denkens mit dem der alten indischen Meister so nachdrücklich und voll Ergriffenheit betont hat, spricht aus ihm weniger der Jünger Kants, als der von ... der Mystik berührte.” (S.  auch > Schopenhauer - ein Mystiker?) Moriz Winternitz bezeichnete in seiner Geschichte der indischen Litteratur (Band 1, 2. Ausg., Leipzig 1909, S. 227 f.) Schopenhauer als den “großen deutschen Mystiker des neunzehnten Jahrhunderts”. So ist es dann wohl Schopenhauers Grenzüberschreitung von der bloß rationalen Philosophie zur Mystik, welche die Brücke von Kant zu den Upanishaden ermöglichte:
> Arthur Schopenhauer : Mystik und Philosophie.

(16)  S. > Schopenhauers Philosophie - eine Offenbarung ?

(17) Heinrich Hasse, a. a. O., S. 16.

(18) Arthur Schopenhauer , a. a. O., Band X, Parerga II, S. 437.

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