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Arthur Schopenhauer : Kampf , Leid und Erlösung

Arthur Schopenhauer , 1859

Wo ein Lebendes athmet,
ist gleich ein anderes gekommen,
es zu verschlingen.

Arthur Schopenhauer (1) 

Alles ist eine Einheit, eine Ganzheit - so oder ähnlich lauten Aussagen, die als spirituelle Wahrheit gelten. Arthur Schopenhauer begründete dieses damit, dass alle Vielheit der Welt letztlich nur Erscheinungsform eines metaphysischen Willens ist, das heißt, dass hinter der unübersehbaren Vielzahl der Formen dieser Welt eine metaphysische Einheit steht, die er Wille nannte. So manifestiert sich dieser Wille in allen Erscheinungen, die wir wahrnehmen.(2)

Wer aufmerksam seine Umwelt betrachtet, muss jedoch noch etwas anderes wahrnehmen, was sich in geradezu furchtbarer Weise in dieser Welt ereignet und Schopenhauer in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung beschrieb:

So sehen wir in der Natur überall Streit, Kampf und Wechsel des Sieges, und werden eben darin weiterhin die dem Willen wesentliche Entzweiung mit sich selbst deutlicher erkennen. Jede Stufe der Objektivation [d. s. die Erscheinungsformen] des Willens macht der andern die Materie, den Raum, die Zeit streitig ... Durch die gesammte Natur läßt sich dieser Streit verfolgen, ja sie besteht wieder nur durch ihn: ... ist doch dieser Streit selbst nur die Offenbarung der dem Willen wesentlichen Entzweiung mit sich selbst Die deutlichste Sichtbarkeit erreicht dieser allgemeine Kampf in der Thierwelt, welche die Pflanzenwelt zu ihrer Nahrung hat, und in welcher selbst wieder jedes Thier die Beute und Nahrung eines andern wird ... indem jedes Thier sein Daseyn nur durch die beständige Aufhebung eines fremden erhalten kann, so daß der Wille zum Leben durchgängig an sich selber zehrt und in verschiedenen Gestalten seine eigene Nahrung  ist, bis zuletzt das Menschengeschlecht, weil es alle andern überwältigt, die Natur für ein Fabrikat zu seinem Gebrauch ansieht.(3)

Schlachthäuser, Tierversuche und andere schreckliche Formen der Tierausbeutung, aber auch rücksichtslose Umweltzerstörungen bestätigen leider alltäglich, wie Recht Arthur Schopenhauer mit seiner Weltsicht hatte. Überall sehen wir den Widerstreit der Individuen auf das entsetzlichste hervortreten. Dies sehen wir denn auch überall vor Augen, im Kleinen wie im Großen, sehen es  ... von der schrecklichen Seite, im Leben großer Tyrannen und Bösewichter und in weltverheerenden Kriegen .... wir sehen es in der Weltgeschichte und in der eigenen Erfahrung.(4)

Schopenhauer erkannte in diesem, dem Dasein wesentlichen Wider- streit eine Hauptquelle für das Leid, welches allem Leben wesentlich und unvermeidlich ist. Es ist der Kampf aller Individuen, der Ausdruck des Widerspruchs, mit welchem der Wille zum Leben im Innern behaftet ist, und der durch das principium individuationis zur Sichtbarkeit gelangt. ... In diesem ursprünglichen Zwiespalt liegt eine unversiegbare Quelle des Leidens.(5)

Aus dieser zunächst zutiefst pessimistisch erscheinenden Aussage Schopenhauers folgt jedoch eine Erkenntnis, die seiner Philosophie eine höchst positive Wendung gibt: Das Leid kann aufgehoben werden, wenn es möglich ist, diesen Zwiespalt, sichtbar im principium individuationis, zu überwinden. Genau das zeigt Schopenhauers Philosophie auf: Es ist das Mitleid, das Schopenhauer in den Mittelpunkt seiner Ethik stellt. Durch das Mitleid, das sich - wie Schopenhauer hervorhob - auch auf Tiere beziehen kann, wird die scheinbare unüberwindbare Mauer zwischen dem Ich und dem Du zunehmend brüchig, ja schließlich sogar überwunden. Die verhängnisvolle, für das Leid verantwortliche  Individuation wird mehr und mehr aufgehoben, so dass am Ende - wie in dem von Schopenhauer hochgeschätzten Buddhismus - Erlösung nicht mehr ausgeschlossen ist.  So zeigt sich auch hieran, dass Arthur Schopenhauers Lehre zwar durch und durch realistisch, zugleich aber auch im Grunde optimistisch ist, ja mehr noch, in ihrem Kern eine Philosophie der Erlösung enthält.


Anmerkungen 

(1)  Arthur Schopenhauer , Ueber den Willen in der Natur,
(Arthur Schopenhauer ,  Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band V, hrsg. v. Angelika Hübscher, Zürich 1977), S. 245.

(2)   Diese (monistische) Auffassung glaubte Schopenhauer in seiner “Bibel”, den altindischen Upanishaden , bestätigt zu finden. Aus heutiger Sicht, wo im Gegensatz zu Schopenhauers Zeit die Texte der Upanishaden vollständiger zur Verfügung stehen, gilt das wohl eher für den Teil der Upanishaden, der im Sinne der Vedanta -
Lehre interpretiert werden kann.

(3)  Arthur Schopenhauer , Die Welt als Wille und Vorstellung I, Erster Teilband. (Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band I,       a. a. O., ), S. 197 f.

(4)  Arthur Schopenhauer , Die Welt als Wille und Vorstellung I, Zweiter Teilband., a. a. O., S. 415.

(5)  Ebd., S. 416
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