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Tolstoi : Schopenhauer

 Sein “Meisterstück”, wie es der Tolstoi-Biograf Lavrin nannte, jenen weltberühmten monumentalen Roman Krieg und Frieden, beendete Lev Tolstoj 1869 nach “sechsjähriger schöpferischer Anstrengung”.(1) Im gleichen Jahr schrieb Tolstoi in einem Brief an den russischen Schriftsteller Fet (2), wie sehr er von Arthur Schopenhauer beeindruckt sei:

“Wissen Sie, wie es mir in diesem Sommer erging? Ein unaufhörliches Entzücken über Schopenhauer und eine Reihe von geistigen Genüssen, wie ich sie nie gekostet habe. Ich habe mir all seine Werke kommen lassen und las und lese, übrigens Kant auch. Sicherlich hat noch nie eine Student in einem Semester so viel gelesen und erfahren, wie ich in diesem Sommer. Ich weiß nicht, ob ich noch einmal meine Anschauung ändern werde, aber jetzt bin ich überzeugt, dass Schopenhauer der genialste Mensch ist. Sie sagen, er sei so-so, er habe einiges über Philosophie geschrieben. Was heißt einiges? Das ist die ganze Welt in einer unglaublich schönen und hellen Spiegelung. Ich habe angefangen, ihn zu übersetzen. Wollen Sie sich nicht auch dranmachen? Wir würden ihn zusammen herausgeben. Beim Lesen begreife ich nicht, wie sein Name unbekannt bleiben konnte. Es gibt nur eine Erklärung, dieselbe, die er so häufig wiederholt, dass es fast nur Idioten in der Welt gibt.”(3)

Bereits im ersten Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft (1912) hatte deren Mitglied, Richard Gebhard aus St. Petersburg, in seinem Beitrag Schopenhauer und Tolstoi aus obigem  Brief zitiert und dazu bemerkt: “Nach diesen Worten kann kein Zweifel mehr daran sein, daß die große und bedeutungsvolle Umwandlung des großen Künstlers in den Asketen und Bußprediger, die viele Jahre gedauert hat,  ... zum großen Teil auf Schopenhauer zurückzuführen ist, und daß Schopenhauers Philosophie den ersten und stärksten Anstoß zu diesem eigenartigen seelischen Prozeß gegeben hat ... Tolstoi gehörte zur Zahl derer, bei denen die Lehre Schopenhauers `als Religion anschlug`, und der religiöse Charakter dieser Lehre war für den von der Kirche abgefallenen, nach religiösen Werten suchenden Russen das Anziehende daran.”(4)

In diesem Zusammenhang wies Gebhard auf einen Brief Tolstois aus dem Jahre 1872 an Strachow hin. Hiernach hatte Tolstoi “gegen die `reine` Philosophie immer eine Abneigung” gehabt: “Die reine Verstandesphilosophie ist eine westliche Mißgeburt, und weder der Grieche Plato, noch Schopenhauer, noch auch die russischen Denker haben sie jemals so aufgefaßt.”(5)

Die Heiligkeit, meinte Gebhard, habe Tolstoi immer wie Schopenhauer verstanden, was auch aus einer Äußerung Tolstois (an Nowikow 1907) hervorgehe: “Euer Leben ist die sich in begrenzter Form äußernde raum- und zeitlose Existenz, die ihr in euch fühlt, und das einzige euch eigene Leben ist das Streben zur Vereinigung mit allem Lebenden, d. h. die Liebe.” Hierbei gehe es, so erläuterte Gebhard, um das “Aufgeben des Principium individuationis” und die “Vereinigung mit dem raum- und zeitlosen All”. Das wäre “auch zugleich das Weltbild Schopenhauers”(6). 

Im Tolstoi-Zitat heißt es: “mit allem Lebenden”. Tolstoi beschränkte also seine Aussage nicht allein auf Menschen. Dementsprechend zeigte sich auch in Tolstois Leben und Werk immer wieder seine die Tiere einbeziehende Ethik, die zum Beispiel in seinem Eintreten für den Vegetarismus sehr deutlich zum Ausdruck kam.(7) Ganz in diesem Sinne und  im vollen Einklang mit Schopenhauers allumfassender Mitleidsethik sind seine Worte zu verstehen:

“Das Mitleid bleibt immer dasselbe Gefühl, ob  man es für einen Menschen oder für eine Fliege empfindet. Der dem Mitleid zugängliche Mensch entzieht sich in beiden Fällen dem Egoismus ...”(8)

Als er sich im oben erwähnten Brief an Fet voller Bewunderung, ja Begeisterung über Schopenhauer äußerte, hatte Tolstoi noch etwa 40 Lebensjahre vor sich.  Blieb Tolstoi bei seiner hohen Wertschätzung für Schopenhauer? Die Antwort ist: Ja! Tolstoi hatte, so stellte Gebhard im Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft fest, seine Meinung über Schopenhauer nicht geändert: “Der zweiundachtzigjährige Greis, der im Herbst 1910, plötzlich bei Nacht und Nebel, Haus und Hof, Weib und Kind für immer verließ, um der Welt zu entfliehen, hatte die Weltanschauung Schopenhauers schon längst in sich aufgenommen und während eines Menschenalters verarbeitet.”(9)

Es war, wie es Gebhard nannte, der “religiöse Charakter” in Schopenhauers  Philosophie, der Tolstoi bis zum Endes seines Lebens so mächtig zu Schopenhauer hinzog. Tolstoi hatte wohl erkannt, dass es bei Schopenhauer nicht bloß um eine “reine Verstandesphilosophie”, sondern letztlich um eine Erlösungslehre  geht.(10) Erlösung durch Überwindung der vergänglichen, leidvollen Welt - auch in dieser Hinsicht stand Arthur Schopenhauer den “indischen” Religionen, insbesondere dem Buddhismus, sehr nahe.(11) 

Menschen haben, schrieb Schopenhauer,  ein “metaphysisches Bedürfnis”, das so “unvertilgbar wie irgendein physisches” sei.(12) Dieses Bedürfnis war sicherlich bei Tolstoi besonders ausgeprägt. Schopenhauers Philosophie konnte es, was sonst  nur Religionen möglich ist, befriedigen. Das ist wohl der tiefere Grund dafür, dass nicht nur Tolstoi, sondern auch viele andere Suchende durch Schopenhauer Hoffnung und Trost gefunden haben und - das darf der Verfasser dieser Zeilen aus eigener Lebenserfahrung hinzufügen - immer noch finden.(13)
 
                                                                                                                                                                                                            

Anmerkungen
(1)  Janko Lavrin, Lev Tolstoj in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek b. Hamburg 1961, S.77 f.

(2)  Brief Tolstois an Fet vom 30.08.1869. Fet war das Pseudonym für den russischen Dichter Afanassi Schenschin (1820-1892), der in Russland nicht nur durch seine Dichtungen, sondern auch durch seine Übersetzung von Goethes “Faust” bekannt wurde. (S. Richard Gebhard, Schopenhauer und Tolstoi,  in: 1. Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft, Kiel 1912, S. 25, Anm. 1).

(3)  Über Arthur Schopenhauer, hrsg. von Gerd Haffmans, 3. Auflage, Zürich 1981, S. 192.

(4)  Gebhard, a. a. O., S. 26.

(5)  Ebd.

(6)  Gebhard, a. a. O., S. 26 f.

(7)  So setzte sich Tolstoi mit seiner Schrift Der erste Schritt (1892) für die vegetarische Lebensweise ein. Dort “gibt es derart realistische Schilderungen des Schlachtens  von Ochsen und anderen Tieren, daß man von Abscheu gepackt wird und kein Fleisch mehr anrühren möchte”
(Lavrin, a. a. O., S. 126).

(8)  Zit. aus: Tier und Mensch. Betrachtungen einer Beziehung, Textauswahl von Fritz Preuß, Hrsg.: Tierversuchsgegner Berlin und Brandenburg e.V., 8. Auflage 2008, S. 210.

(9)  Gebhard, a. a. O., S. 28.

(10) Zum “religiösen Charakter” der Philosophie Schopenhauers > dort.

(11) Ähnlich wie Schopenhauer äußerte sich Tolstoi sehr positiv über den Buddhismus: In  einem Brief vom April 1910 an die “Vegetarische Rundschau” in Kiew wies Tolstoi auf die “metaphysische Tiefe” des Buddhismus hin, wobei er besonders dessen “praktische Morallehren” hervorhob. “Es ist kaum auszudenken, was für eine gewaltige Umwälzung im Leben entstehen würde, würden alle Menschen diese (buddhistischen) Lehren kennen und sich an sie halten ...” (Die Buddhistische Welt. Deutsche Monatsschrift für Buddhismus, V. Jg, 1911/12, S. 420 ff.). 

(12) Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden, Band V: Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, Zürich 1977, S. 139.

(13) Weitere Beispiele hierzu sind in: Wege zu Schopenhauer.
Arthur Hübscher zu Ehren. Festgabe zum 80. Geburtstag, hrsg. von Clemens Köttelwesch, Wiesbaden 1978.

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