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  Arthur Schopenhauer : Lebenswille

Solange wir von Lebenswillen erfüllt sind, dürfen wir für unser Dasein nicht besorgt sein, auch nicht beim Anblick des Todes, schrieb Arthur Schopenhauer im ersten Band seines Hauptwerkes. (1) Jedoch welcher Mensch, der ja wie alles Leben Ausdruck des Lebenswillens ist, wird beim Gedanken an den Tod nicht von Besorgnis und Furcht ergriffen?

Um Schopenhauers obigen Satz ganz zu verstehen, ist es sehr wichtig zu wissen, was der in seiner Philosophie zentrale Begriff Wille bedeutet.  Gemeint ist dort ein metaphysischer Wille, der sich in allen Erscheinungen dieser Welt - also auch im individuellen Willen jedes Menschen - höchst eindrucksvoll manifestiert. Dieser metaphysische Wille ist laut Schopenhauers Philosophie als Ding an sich außerhalb von Zeit und Raum und daher nicht dem Tod unterworfen. Der Tod betrifft nur die individuellen (zeitlich begrenzten) Erscheinungsformen dieses Willens. Dazu erläuterte der Philosoph Heinrich Hasse in seinem sehr empfehlenswerten Buch über Schopenhauers Leben und Werk:

“Mit der Vernunft findet sich beim Menschen die erschreckende Gewißheit des Todes ein. Aber erst der philosophische Mensch wendet sich einer vorurteilslosen Behandlung der Frage zu, in welchem Verhältnis das zeitlich begrenzte individuelle Dasein zu den überzeitlichen Mächten des metaphysischen Willens steht, deren Erscheinung es ist. Die Kenntnis des Todes erweckt die Fragestellung nach der metaphysischen Bedeutung von Leben und Tod.

Nun ist der Wille als solcher Wille zum Leben. Dasjenige, was er will, ist immer das Leben. Dieses aber ist nichts anderes als die Sichtbarkeit des Wollens in der Welt der Erscheinung, in welcher er sich für die Vorstellung darstellt.

Da nun der Wille das Ding an sich, der innere unerfahrbare Gehalt, das Wesen der Welt und des Lebens ist, die sichtbare Welt als Erscheinung aber nur der Spiegel des Willens, so wird diese den Willen so untrennbar begleiten wie den Körper sein Schatten: wenn Wille da ist, wird auch Welt und Leben da sein. Dem Willen zum Leben - so drückt Schopenhauer diesen tiefen Gedanken aus - ist das Leben gewiß.

Solange wir von Lebenswillen erfüllt sind, haben wir keinen Anlaß, um unser Dasein besorgt zu sein, selbst nicht beim Anblick des Todes. Wohl sehen wir das Individuum entstehen und vergehen, aber dieses ist nur Erscheinung des Willens, nicht der Wille selbst. Es ist nur vorhanden für die im Satz vom Grunde, dem principio individuationis, befangene Erkenntnis, und nur für diese scheint es, sein Leben als ein Geschenk empfangend, aus dem Nichts emporzutauchen, um, mit dem Tode den Verlust dieses Geschenkes erleidend, zurückzusinken ins Nichts.

Für die philosophisch vertiefte Betrachtung ergibt sich, daß weder der Wille als das Ding an sich, noch das reine Subjekt des Erkennens als der ewige Zuschauer seiner Erscheinungen, von Geburt und Tod irgend berührt werden. Geburt und Tod gehören zur Erscheinung des Willens, sind Ereignisse in der Zeit.

Der einzelnen Willenserscheinung ist es eigen, daß sie zeitlich anfängt und zeitlich endet, wogegen der Wille selbst, als Ding an sich, hiervon nicht betroffen wird. Nur als Erscheinung ist das Individuum vergänglich, als Ding an sich dagegen notwendigerweise zeitlos, also ohne Anfang und Ende seiner Existenz. Der Tod ist ein Schlaf, in welchem die Individualität vergessen wird: alles andere erwacht wieder oder vielmehr ist wach geblieben.

Die Individualität erlischt zugleich mit dem Intellekt im weitesten Sinne, d. h. mit dem Bewußtsein. Die phänomenalen Bestandteile unseres Wesens sind sterblich. Hinter ihnen aber waltet das unsterbliche Leben der Natur, das Wesen an sich aller Dinge, welches jenseits aller Zeit gelagert, die Form des Entstehens und Vergehens nicht kennt, also weder Schöpfung noch Vernichtung unterworfen ist. Nur als Erscheinung ist ja der Einzelne von den übrigen Dingen der Welt verschieden, als Ding an sich aber der nämliche Wille, welcher in allem, was ist, erscheint. Der Tod hebt die Täuschung auf, die sein Bewußtsein von dem der Übrigen trennt.

 Die Wurzel unseres Daseins verharrt, durch das Sterben des Individuums ungetroffen, wie die wirkliche Sonne ohne Unterlaß brennt, während sie nur scheinbar in den Schoß der Nacht sinkt, daher, wenn ein Mensch den Tod als seine Vernichtung fürchtet, es nicht anders ist, als wenn man dächte, die Sonne könne am Abend klagen: ´Wehe mir! Ich gehe unter in ewige Nacht!´ ... Die Erde wälzt sich vom Tage in die Nacht; das Individuum stirbt: aber die Sonne selbst brennt ohne Unterlaß ewigen Mittag. Dem Willen zum Leben ist das Leben gewiß ... gleichviel wie die Individuen ...  in der Zeit entstehen und vergehen, flüchtigen Träumen zu vergleichen.

Dieses Entstehen und Vergehen nämlich ist etwas durch die Struktur unseres Intellektes Bedingtes; es betrifft nur die scheinbare, nicht die an sich selbst bestehende und wahre Ordnung der Dinge. Das innerste Prinzip unseres Lebens wird infolgedessen durch den Tod des Individuums nicht berührt. Diese Gedanken hat Schopenhauer in einem selbständigen Kapitel, einem der schönsten und tiefsinnigsten, die wir von ihm besitzen, ausführlich behandelt, dem 41. Kapitel des Ergänzungsbandes zum Hauptwerk: Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unsers Wesens an sich.“ (2)

Mensch und Tier sind zutiefst erfüllt vom Lebenswillen. Beide sind Erscheinungsformen eines metaphysischen Willens. Daher werden sie zwar in ihrer äußeren Erscheinung, jedoch nicht in ihrem innersten Wesen vom Tod betroffen. In diesem Sinne sind Arthur Schopenhauers trostreiche Worte zu verstehen:

Wie durch den Eintritt der Nacht die Welt verschwindet, dabei jedoch keinen Augenblick zu sein aufhört; ebenso scheinbar vergeht Mensch und Tier durch den Tod, und ebenso ungestört besteht dabei ihr wahres Wesen fort. [...] Demnach können wir jeden Augenblick wohlgemut ausrufen:

´Trotz Zeit, Tod und Verwesung sind wir noch Alle beisammen.` (3)


Weiteres > Lebenswille - das Allerrealste!

Anmerkungen
(1)
Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band II: Die Welt als Wille und Vorstellung I, Zürich 1977, S. 348.
(2) Heinrich Hasse , Schopenhauer , München 1926, S. 300-302.
(3) Schopenhauer , a. a. O., Band IV: Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 561 f.

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