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Der Schleier der Maya
in Schopenhauers Philosophie
und im Vedanta

Maya - dieses altindische Sanskritwort, so erklärt das Lexikon der östlichen Weisheitslehren, ist “ein universales Prinzip  der  [von Arthur Schopenhauer hoch geschätzten, auf den Upanishaden beruhenden] Vedanta-Philosophie ... Maya verschleiert die Sicht des Menschen, so daß er nur die Vielfalt des Universums erblickt und nicht die Wirklichkeit”. (1)

In diesem Sinne sind auch  Schopenhauers Worte im ersten Band seines Hauptwerkes Die Welt als Wille und Vorstellung zu verstehen, wo er sich zur Begründung seiner Philosophie auf die “uralte Weisheit der Inder” berief: 

“Die uralte Weisheit der Inder spricht: ´es ist die Maya, der Schleier des Truges, welcher die Augen der Sterblichen umhüllt und sie eine Welt sehen läßt, von der man weder sagen kann, daß sie sei, noch auch, daß sie nicht sei: denn sie gleicht dem Traume, gleicht dem Sonnenglanz auf dem Sande, welchen der Wanderer von ferne für ein Wasser hält, oder auch dem hingeworfenen Strick, den er für eine Schlange ansieht.`” (2)

Zu Recht hatte Schopenhauer die oben zitierte “Weisheit der Inder” als “uralt” bezeichnet, denn die Lehre von der Maya ist bereits in den älteren  Upanishaden enthalten. So hat ein Abschnitt in einer Übersetzung der Shvetashvatara-Upanishad die ÜberschriftDie Welt als Schein (Maya)”.(3)  Im folgenden Vers aus der genannten Upanishad kommt die Maya-Lehre deutlich zum Ausdruck: 

“Erkenne die Natur als Maya, als objektive Täuschung, und jenen Magier als den höchsten Gott. Diese ganze Welt ist durchdrungen von Kräften und Wesen, die Teile von ihm sind.”(4)

Wie das nachstehende Zitat zeigt, verwendete Schopenhauer das Bild vom Schleier der Maya auch im Zusammenhang mit seiner Ethik. Hierbei wies er auf das  principium individuationis hin, das nach seiner Philosophie der Grund ist, warum alles Sein nicht als Einheit wahrgenommen wird, sondern als Vielheit erscheint und somit die gleiche Bedeutung hat wie der Schleier der Maya.  

“ Wenn nämlich vor den Augen eines Menschen jener Schleier der Maya, das principium individuationis, so sehr gelüftet ist, daß derselbe nicht mehr den egoistischen Unterschied zwischen seiner Person und der fremden macht, sondern an den Leiden der andern Individuen so viel Antheil nimmt, wie an seinen eigenen, und dadurch nicht nur im höchsten Grade hülfreich ist, sondern sogar bereit, sein eigenes Individuum zu opfern, sobald mehrere fremde dadurch zu retten sind; dann folgt von selbst, daß ein solcher Mensch, der in allen Wesen sich, sein innerstes und wahres Selbst erkennt, auch die endlosen Leiden alles Lebenden als die seinen betrachten und so den Schmerz der ganzen Welt sich zueignen muß.

Ihm ist kein Leiden mehr fremd. Alle Quaalen Anderer, die er  sieht und so selten zu lindern vermag, alle Quaalen, von denen er mittelbar Kunde hat, ja die er nur als möglich erkennt, wirken auf seinen Geist, wie seine eigenen.

Es ist nicht mehr das wechselnde Wohl und Wehe seiner Person, was er im Auge hat, wie dies bei dem noch im Egoismus befangenen Menschen der Fall ist; sondern, da er das principium individuationis durchschaut, liegt ihm alles gleich nahe. Er erkennt das Ganze, faßt das Wesen desselben auf, und findet es in einem steten Vergehen, nichtigem Streben, innerm Widerstreit und beständigem Leiden begriffen, sieht, wohin er auch blickt, die leidende Menschheit und die leidende Thierheit, und eine hinschwindende Welt.

Dieses Alles aber liegt ihm jetzt so nahe, wie dem Egoisten nur  seine eigene Person. Wie sollte er nun, bei solcher Erkenntniß der Welt, eben dieses Leben durch stete Willensakte bejahen und eben dadurch sich ihm immer fester verknüpfen, es immer fester an sich drücken?

Wenn also Der, welcher noch im principio individuationis, im Egoismus, befangen ist, nur einzelne Dinge und ihr Verhältniß zu seiner Person erkennt, und jene dann zu immer erneuerten Motiven seines Wollens werden; so wird hingegen jene beschriebene Erkenntniß des Ganzen, des Wesens der Dinge an sich, zum Quietiv [Beruhigungsmittel] alles und jedes Wollens. Der Wille wendet sich nunmehr vom Leben ab: ihm schaudert jetzt vor dessen Genüssen, in denen er die Bejahung desselben erkennt. Der Mensch gelangt zum Zustande der freiwilligen Entsagung, der Resignation, der wahren Gelassenheit und gänzlichen Willenslosigkeit. -

Wenn uns anderen, welche noch der Schleier der Maya umfängt, auch zu Zeiten, im schwer empfundenen eigenen Leiden, oder im lebhaft erkannten fremden, die Erkenntniß der Nichtigkeit und Bitterkeit des Lebens nahetritt und wir durch völlige und auf immer entschiedene Entsagung den Begierden ihren Stachel abbrechen, allem Leiden den Zugang verschließen, uns reinigen und heiligen möchten; so umstrickt uns doch bald wieder die Täuschung der Erscheinung, und ihre Motive setzen den Willen aufs Neue in Bewegung: wir können uns nicht losreißen.

Die Lockungen der Hoffnung, die Schmeichelei der Gegenwart, die Süße der Genüsse, das Wohlseyn, welches unserer Person mitten im Jammer einer leidenden Welt, unter der Herrschaft des Zufalls und des Irrthums, zu Theil wird, zieht uns zu ihr zurück und befestigt aufs Neue die Banden.”(5)


S. dazu ergänzend:
Das Tat-twam-asi in den Upanishaden und der Ethik Schopenhauers.


Anmerkungen

(1)
Lexikon der östlichen Weisheitslehren,
Bern / München / Wien 1986, Stichwort Maya, S. 239.
Im gleichen Sinne erläutert das Buch von Heinrich Zimmer, Philosophie und Religion Indiens ( Zürich 1973, S. 31): “Maya in der vedantischen Philosophie ist im besonderen ´die die Wirklichkeit überdeckende Illusion als Folge der Unwissenheit`; man ist zum Beispiel unwissend über das Wesen eines Seiles, das man auf dem Wege sieht und vielleicht für eine Schlange halten mag. Shankara [der bedeutendste Philosoph des Vedanta] definiert den ganzen Kosmos als Maya, eine Illusion des Menschen, mit der seine trügerischen Sinne und sein unerleuchteter Geist ihm das wahre Sein verdecken (Vgl. Kant, Die Kritik der reinen Vernunft).”
Schopenhauer wies in diesem Zusammenhang ebenfalls auf Kant hin. Hiernach ist die Lehre von der Maya  nichts anderes als das, was Kant die Erscheinung im Gegensatz zum Ding an sich nannte. (S. Anm. 2 und Schopenhauer-Register von Gustav Friedrich  Wagner, neu hrsg. von Arthur Hübscher, Stuttgart-Bad Cannstatt 1960, Stichwort: Indien, S. 182).

(2)
  Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden, Zürich 1977,
Band I: Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 34.

(3) Upanishaden. Die Geheimlehre der Inder,
übertr. und eingel. von Alfred Hillebrandt, Köln 1983, S. 174.

(4) Shvetashvatara-Upanishad (4,10), zit. aus: Die Weisheit der Upanischaden. Klassiker indischer Spiritualität in zeitgemäßer Neuübertragung, übers. und hrsg. von Hans-Georg Türstig,
Frankfurt am Main 1996, S. 116. Auch in dieser Upanishad gilt, dass “alles letztlich eine absolute Einheit bildet” (Türstig, S. 108).
Diese Upanishad ist nach Meinung des Veda-Forschers Deussen “die zuerst vorkommende Erklärung der Welt als einen durch Brahman ... hervorgebrachten Blendwerkes (maya), s. Paul Deussen, Upanishaden. Die Geheimlehre des Veda, eingel. und hrsg. von Peter Michel, Wiebaden 2006, S. 370.

(5) Arthur Schopenhauer, a. a. O., Band II, S. 469 f.
Das obige Zitat betrifft den Kern von Schopenhauers Philosophie, denn es ist aus Schopenhauers Hauptwerk, und zwar aus dem Vierten Buch, das unter der Überschrift steht: “Bei erreichter Selbsterkenntniß Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben.” Somit geht es hier letztlich um Erlösung aus dieser Welt des Leides, was die Überwindung des Egoismus, welcher Ausdruck der  Willensbejahung ist, voraussetzt.

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