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Preisschrift über die Grundlage der Moral

Vorwort der Redaktion

Mitleid sei, wie Arthur Schopenhauer in seiner Preisschrift über die Grundlage der Moral schrieb, das große Mysterium der Ethik.(1) Um dieses Mysterium geht es in Schopenhauers Mitleidsethik, die eines der zentralen Themen seiner Philosophie ist.

Die auf dem Mitleid beruhende Ethik ist ein Thema, an dem besonders viele Leser Schopenhauers interessiert sind. So steht laut Webstatistik von den mehreren hundert Seiten, welche die Redaktion zu Arthur  Schopenhauer im Internet veröffentlicht hat, gemessen  an der Besucherzahl die Seite Mitleidsethik weit an der Spitze.

Das Wort Mitleid wird jedoch heutzutage wohl nicht mehr ganz so positiv aufgefasst, wie es von Schopenhauer verstanden und von ihm in seiner Philosophie gebraucht wurde. Besonders in den letzten Jahren wird stattdessen der Begriff  Empathie vorgezogen.

Laut Duden ist Empathie “die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen” (2). Schopenhauer hat wie kaum ein anderer weltbekannter Philosoph diese Fähigkeit sehr tief gedeutet und dabei ihre metaphysischen Wurzeln aufgedeckt. Jedenfalls geht seine Erklärung weit über die Ergebnisse heutiger naturwissenschaftlicher Forschung hinaus.

Die Naturwissenschaft entdeckte die Spiegelneuronen, durch die es möglich sein soll, dass Menschen (und zum Teil auch Tiere) sich in andere Lebewesen gleichsam hineinversetzen können.(3) In der Evolution hätte sich, wie manche Naturwissenschaftler meinen, diese Fähigkeit herausgebildet, weil es zum Beispiel während der Jagd wichtig wäre, aufeinander abgestimmt, also koordiniert, zu handeln. Somit würden Spiegelneuronen und daher auch die Empathie dem Überleben dienen. Allerdings ergibt sich bei dieser rein naturwissenschaftlichen Deutung die Frage, welchen Sinn Empathie haben soll, wenn es sich zum Beispiel als Mitleid äußert, und zwar mit Tieren, die zur Nahrung oder anderen menschlichen Zwecken dienen.(4)

Gerade hieran zeigt sich, wie bedeutsam es ist, dass Schopenhauers Mitleidsethik weit über bloß naturwissenschaftliche, also materialistische Erklärungen hinausreicht, indem sie die metaphysische Verbundenheit allen Lebens hervorhebt  und auf dieser Grundlage die Ethik begründet. Es ist somit auch verständlich, wenn Schopenhauer in seiner Preisschrift betonte: Die von mir aufgestellte moralische Triebfeder bewährt sich als ächte ferner dadurch, daß sie auch die Thiere in ihren Schutz nimmt, für welche in den andern Europäischen Moralsystemen so unverantwortlich schlecht gesorgt ist. Die vermeintliche Rechtlosigkeit der Thiere, der Wahn, daß unser Handeln gegen sie ohne moralische Bedeutung sei, oder, wie es in der Sprache jener Moral heißt, daß es gegen Thiere keine Pflichten gebe, ist geradezu eine empörende Rohheit und Barbarei des Okzidents [Abendlandes ...]. (5)

Schopenhauer ging bei seiner Mitleidsethik von einer Lebens- erfahrung aus, nämlich der, dass durch das Mitleid die Schranke zwischen dem “Ich” und dem “Du” (dem Nicht-Ich”) mehr und mehr aufgehoben wird. Diese Schranke, die durch eine ausgeprägte Individualität gekenn- zeichnet ist und in einem fast unbegrenzten Egoismus zum Ausdruck kommt, trennt die Wesen voneinander. Er nannte das Prinzip, das dahinter steht:  principium individuationis.

Für Schopenhauer war die Überwindung dieser verhängnisvollen Individuation eine Voraussetzung für das, worum es letztlich im Kern seiner Philosophie geht, nämlich die Erlösung. Ohne Mitleid ist Erlösung nicht möglich - eine Erkenntnis, die vor mehr als 2500 Jahren auch der von Schopenhauer hoch verehrte Buddha hatte. So wird im Buddhismus das allumfassende (und daher auch Tiere einbeziehende) Mitleid als göttlicher Zustand gepriesen.(6)

Arthur Schopenhauer hatte das Glück, seine 1841 veröffentlichte Preisschrift über die Grundlage der Moral noch kurz vor seinem Tod verbessern und ergänzen zu können, bevor sie dann 1860, also in seinem Todesjahr, in zweiter Auflage herausgegeben wurde.(7) Er stellte sie unter das Motto Moral predigen ist leicht, Moral begründen schwer.(8) Gewiss, diese Aufgabe ist schwer, aber Schopenhauer hat sie gelöst, denn in der Preisschrift gab er für seine Mitleidsethik eine überzeugende, nach Meinung der Redaktion geradezu geniale Begründung.  Auch hier dürfte zutreffen, was Arthur Schopenhauer in einem Gespräch mit Julius Frauenstädt äußerte: Ueber mich kann man wohl in der Breite, aber nicht in der Tiefe hinaus.(9)
                                                                                                                 Anmerkungen
(1)  Arthur Schopenhauer´s sämmtliche Werke.
       Hrsg. von Julius    Frauenstädt. 2. Auflage, Band 4,
       Leipzig 1919,  S. 273.
(2)  Duden. Die deutsche Rechtschreibung. 24. Auflage,
        Mannheim 2006, S. 365. 
(3)  Arthur Schopenhauer : Spiegelneuronen und Mitleidsethik
      (Blogbeitrag der Redaktion, Stand: 22.02.2015).
(4) Dementsprechend stellte Ludwig Siep in seinem Beitrag
      Was ist Altruismus?( in: Evolution und Ethik,
       hrsg. von Kurt Bayertz, Stuttgart 1993, S. 295) fest,
       dass “spontanes Mitgefühl auch für ...
       nicht-menschliche Lebewesen” Schwierigkeiten “für die
       soziobiologische Erklärung” machen würde.
(5)  Arthur Schopenhauer´s sämmtliche Werke. a. a. O.,  S. 238.
       S. auch: Schopenhauer - ein früher Tierversuchsgegner .
(6)  In den Schriften des Theravada-Buddhismus, die in der
       altindischen Pali-Sprache abgefasst sind, werden “Mitleid”
       als Karuna und “göttlicher Zustand” als Brahmavihara
     
bezeichnet. Vgl. dazu: Nyanatiloka, Buddhistisches
       Wörterbuch
. 2. Auflage, Konstanz 1976, S. 102. 
(7) Seine Preisschrift, die Schopenhauer zuvor der Königlich
      Dänischen Societät der Wissenschaften vorlegte, wurde
      von dieser 1840 nicht gekrönt, und zwar   hauptsächlich
      deswegen, weil Schopenhauer dort Philosophen (besonders
      Hegel), die er ablehnte, mit unangemessenen Worten
      kritisiert  hätte.
(8) Arthur Schopenhauer´s sämmtliche Werke, a. a. O., S.1
(9) Arthur Schopenhauer, Gespräche. Neue, stark erweiterte
      Ausgabe. Hrsg. von Arthur Hübscher.
      Stuttgart-Bad Cannstadt 1971, S, 110. 

Textauszüge aus
der Preisschrift über die Grundlage der Moral
                     
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