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Arthur Schopenhauer Mitleid und Ethik |
Textauszüge (Teil 4 / 4) aus: |
Gehört demnach Vielheit und Geschiedenheit allein der bloßen Erscheinung an, und ist es Ein und das selbe Wesen, welches in allen Lebenden sich darstellt; so ist diejenige Auffassung, welche den Unterschied zwischen Ich und Nicht-Ich aufhebt, nicht die irrige: vielmehr muß die ihr entgegengesetzte dies seyn. Audı finden wir diese letztere von den Hindus mit dem Namen Maja, d. h. Schein, Täuschung, Gaukelbild, bezeichnet. Jene erstere Ansicht ist es, welche wir als dem Phänomen des Mitleids zum Grunde liegend, ja, dieses als den realen Ausdruck derselben gefunden haben. Sie wäre demnach die metaphysische Basis der Ethik, und bestände darin, daß das eine Individuum im andern unmittelbar sich selbst, sein eigenes wahres Wesen wiedererkenne Demnach träfe die praktische Weisheit, das Rechtthun und Wohl- thun, im Resultat genau zusammen mit der tiefsten Lehre der am weitesten gelangten theoretischen Weisheit; und der praktische Philosoph, d. h. der Gerechte, der Wohlthätige, der Edelmüthige, spräche durch die That nur die selbe Erkenntniß aus, welche das Ergebniß des größten Tiefsinns und der mühsäligsten Forschung des theoretischen Philosophen ist. Indessen steht die moralische Trefflichkeit höher denn alle theore- tische Weisheit, als welche immer nur Stückwerk ist und auf dem langsamen Wege der Schlüsse zu dem Ziele gelangt, welches jene mit Einem Schlage erreicht; und der moralisch Edle, wenn ihm auch noch so sehr die intellektuelle Trefflichkeit abgeht, legt durch sein Handeln die tiefste Erkenntniß, die höchste Weisheit an den Tag, und beschämt den Genialsten und Gelehrtesten, wenn dieser durch sein Thun verräth, daß jene große Wahrheit ihm doch im Herzen fremd geblieben ist. “Die Individuation ist real, das principium individuationis und die auf demselben beruhende Verschiedenheit der Individuen ist die Ordnung der Dinge an sich. Jedes Individuum ist ein von allen andern von Grund aus verschiedenes Wesen. Im eigenen Selbst allein habe ich mein wahres Seyn, alles Andere hingegen ist Nicht-Ich und mir fremd.”- Dies ist die Erkenntniß, für deren Wahrheit Fleisch und Bein Zeugniß ablegen, die allem Egoismus zum Grunde liegt, und deren realer Ausdruck jede lieblose, ungerechte, oder boshafte Handlung ist. - “Die Individuation ist bloße Erscheinung, entstehend mittelst Raum und Zeit, welche nichts weiter als die durch mein cerebrales Erkenntnißvermögen bedingten Formen aller seiner Objekte sind; daher auch die Vielheit und Verschiedenheit der Individuen bloße Erscheinung, d. h. nur in meiner Vorstellung vorhanden ist. Mein wahres, inneres Wesen existirt in jedem Lebenden so unmittelbar, wie es in meinem Selbstbewußtseyn sich nur mir selber kund giebt.” - Diese Erkenntniß, für welche im Sanskrit die Formel tat-twam asi, d. h. “dies bist Du”, der stehende Ausdruck ist, ist es, die als Mitleid hervorbricht, auf welcher daher alle ächte, d. h. uneigennützige Tugend beruht und deren realer Ausdruck jede gute That ist. Diese Erkenntniß ist es im letzten Grunde, an welche jede Appellation an Milde, an Menschenliebe, an Gnade für Recht sich richtet: denn eine solche ist eine Erinnerung an die Rücksicht, in welcher wir alle Eins und dasselbe Wesen sind. Hingegen beruft Egoismus, Neid, Haß, Verfolgung, Härte, Rache, Schadenfreude, Grausamkeit sich auf jene erstere Erkenntniß und beruhigt sich bei ihr. Die Rührung und Wonne, welche wir beim Anhören, noch mehr beim Anblick, am meisten beim eigenen Vollbringen einer edlen Handlung empfinden, beruht im tiefsten Grunde darauf, daß sie uns die Gewißheit giebt, daß jenseits aller Vielheit und Verschiedenheit der Individuen, die das principium individuationis uns vorhält, eine Einheit derselben liege, welche wahrhaft vorhanden, ja, uns zugänglich ist, da sie ja eben faktisch hervortrat. Je nachdem die eine oder die andere Erkenntnißweise festgehalten wird, tritt, zwischen Wesen und Wesen, die φιλια [Liebe] oder der νεικος[Haß] des Empedokles hervor. Aber wer, vom νεικος [Haß] beseelt, feind- lich eindränge auf seinen verhaßtesten Widersacher, und bis in das Tiefinnerste desselben gelangte; der würde in diesem, zu seiner Ueber- raschung, sich selbst entdecken. Denn so gut wie im Traum in allen uns erscheinenden Personen wir selbst stecken, so gut ist es im Wachen der Fall, - wenn auch nicht so leicht einzusehen. Aber tat-twam asi. Das Vorwalten der einen oder der andern jener beiden Erkenntnißweisen zeigt sich nicht bloß in den einzelnen Handlungen, sondern in der ganzen Art des Bewußtseyns und der Stimmung, welche daher beim guten Charakter eine von der des schlechten so wesentlich verschiedene ist. Dieser empfindet überall eine starke Scheidewand zwischen sich und Allem außer ihm. Die Welt ist ihm ein absolutes Nicht-Ich und sein Verhältniß zu ihr ein ursprünglich feindliches: dadurch wird der Grundton seiner Stimmung Gehässigkeit, Argwohn, Neid, Schadenfreude. - Der gute Charakter hingegen lebt in einer seinem Wesen homogenen Außenwelt: die Andern sind ihm kein Nicht-Ich, sondern “Ich noch ein Mal”. Daher ist sein ursprüngliches Verhältniß zu Jedem ein befreundetes: er fühlt sich allen Wesen im Innern verwandt, nimmt unmittelbar Theil an ihrem Wohl und Wehe, und setzt mit Zuversicht die selbe Theilnahme bei ihnen voraus. Hieraus erwächst der tiefe Friede seines Innern und jene getroste, beruhigte, zufriedene Stimmung, vermöge welcher in seiner Nähe Jedem wohl wird. - Der böse Charakter vertraut in der Noth nicht auf den Beistand Anderer: ruft er ihn an, so geschieht es ohne Zuversicht: erlangt er ihn, so empfängt er ihn ohne wahre Dankbarkeit: weil er ihn kaum anders denn als Wirkung der Thorheit Anderer begreifen kann. Denn sein eigenes im fremden Wesen wieder zu erkennen, ist er selbst dann noch unfähig, nachdem es von dort aus sich durch unzweideutige Zeidıen kund gegeben hat. Hierauf beruht eigentlich das Empörende alles Undanks. Diese moralische Isolation, in der er sich wesentlich und unausweichbar befindet, läßt ihn auch leicht in Verzweiflung gerathen. - Der gute Charakter wird mit eben so vieler Zuversicht den Beistand Anderer anrufen, als er sich der Bereitwilligkeit bewußt ist, ihnen den seinigen zu leisten. Denn, wie gesagt, dem Einen ist die Menschenwelt Nicht-Ich, dem Andern “Ich noch ein Mal”. - Der Großmüthige, welcher dem Feinde verzeiht und das Böse mit Gutem erwidert, ist erhaben und erhält das höchste Lob; weil er sein selbsteigenes Wesen auch da noch erkannte, wo es sich entschieden verleugnete. Jede ganz lautere Wohltat, jede völlig und wahrhaft uneigen- nützige Hülfe, welche, als solche, ausschließlich die Noth des Andern zum Motiv hat, ist, wenn wir bis auf den letzten Grund forschen, eigentlich eine mysteriöse Handlung, eine praktische Mystik, sofern sie zuletzt aus der selben Erkenntniß, die das Wesen aller eigentlichen Mystik ausmacht, entspringt und auf keine andere Weise mit Wahrheit erklärbar ist. Denn daß Einer auch nur ein Almosen gebe, ohne dabei auf die entfernteste Weise etwas Anderes zu bezwecken, als daß der Mangel, welcher den Andern drückt, gemindert werde, ist nur möglich, sofern er erkennt, daß er selbst es ist, was ihm jetzt unter jener traurigen Gestalt erscheint, also daß er sein eigenes Wesen an sich in der fremden Erscheinung wiedererkenne. Daher habe ich [...] das Mitleid das große Mysterium der Ethik genannt. Zurück > Teil 1 |
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