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Arthur Schopenhauer

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Natur - Urkraft - Wille

Aus: Schopenhauer-Lexikon.
Ein philosophisches Wörterbuch,
nach Arthur Schopenhauers sämmtlichen Schriften
und handschriftlichem Nachlaß
bearb. von Julius Frauenstädt. Band 2, Leipzig 1871, S. 159-161, Stichwort: Natur.

Die Urkraft der Natur

Betrachten wir die nie genug bewunderte Vollendung in den Werken der Natur, die selbst in den letzten und kleinsten Organismen und in jedem einzelnen der zahllosen Individuen mit derselben Sorgfalt durchgeführt ist; verfolgen wir die Zusammensetzung der Teile jedes Organismus und stoßen dabei doch nie auf ein ganz Einfaches und Letztes, geschweige auf ein Unorganisches; verlieren wir uns endlich in Betrachtung der Zweckmäßigkeit aller jener Teile desselben zum Bestande des Ganzen; erwägen wir dabei, dass jedes dieser Meisterwerke schon unzählige Male von Neuem hervorgebracht wurde und doch das letzte Exemplar jeder Art auch eben so sorgfältig ausgearbeitet erscheint, wie das erste, die Natur also keineswegs ermüdet und zu pfuschen anfängt; dann werden wir zuvörderst inne, dass alle menschliche Kunst nicht bloß dem Grade, sondern der Art nach vom Schaffen der Natur völlig verschieden ist; nächst dem aber, dass die wirkende Urkraft, die natura naturans [schaffende Natur], in jedem ihrer zahllosen Werke ganz und ungeteilt unmittelbar gegenwärtig ist, woraus folgt, dass sie, als solche und an sich, von Raum und Zeit nichts weiß.

Bedenken wir ferner, dass die Hervorbringung jener vollendeten Gebilde der Natur so ganz und gar nichts kostet, dass sie mit unbegreiflicher Verschwendung Millionen Organismen schafft, die dem Zufall preisgegeben, nie zur Reife gelangen, andererseits aber auch, durch Zufall begünstigt, Millionen Exemplare einer Art liefert, wo sie bisher nur eines gab, folglich Millionen ihr nichts mehr kosten, als Eines, so leitet auch dieses zu der Ansicht hin, dass der Urkraft der Natur, dem Dinge an sich, die Vielheit fremd ist (1), mithin Raum und Zeit, auf welchen die Möglichkeit aller Vielheit beruht, bloße Formen unserer Anschauung sind.
(W. II, 366 fg. 375. P. II, §. 67.)

Das innerste Wesen der gesamten Natur ist Wille

Nicht allein im Menschen und Tiere ist das innerste Wesen Wille; sondern die fortgesetzte Reflexion leitet dahin, auch die Kraft, welche in der Pflanze treibt und vegetiert, ja, die Kraft, durch welche der Kristall anschießt, die, welche den Magnet zum Nordpole wendet, die, deren Schlag uns aus der Berührung heterogener Metalle entgegenfährt, die, welche in den Wahlverwandtschaften der Stoffe als Fliehen und Suchen, Trennen und Vereinen erscheint, ja, zuletzt sogar die Schwere, — diese Alle nur in der Erscheinung für verschieden, ihrem inneren Wesen nach aber als das Selbe zu erkennen, was in uns, wo es am deutlichsten hervortritt und uns intimer bekannt ist, als alles Andere, Wille heißt. Wille ist das Innerste, der Kern jedes Einzelnen und ebenso des Ganzen; er erscheint in jeder blindwirkenden Naturkraft, er auch erscheint im überlegten Handeln des Menschen, welcher Beider große Verschiedenheit doch nur den Grad des Erscheinens, nicht das Wesen des Erscheinenden trifft.
(W. I, 130 fg. 136. 140 fg.; II 332 fg. 339.)

Der Kreislauf der Natur

Durchgängig und überall ist das echte Symbol der Natur der Kreis, weil er das Schema der Wiederkehr ist; diese ist in der Tat die allgemeinste Form in der Natur, welche sie in Allem durchführt, vom Laufe der Gestirne an bis zum Tod und der Entstehung organischer Wesen, und wodurch allein in dem rastlosen Strom der Zeit und ihres Inhalts doch ein bestehendes Dasein, d. i. eine Natur, möglich wird. (W. II, 543.)

Nachwort der Redaktion

Das, was das innerste Wesen der Natur  ausmacht, ist metaphysisch und somit wohl kaum in Worte zu fassen. Dennoch gab ihm Arthur Schopenhauer einen Namen: Wille oder Urkraft. Die von Schopenhauer hochgeschätzten altindischen  Upanishaden nannten dieses Metaphysische Brahman. Hierzu aufschlussreich ist der Eintrag, den Schopenhauer 1833 in sein Manuskriptbuch (Cogita II, S. 391) schrieb:

 “Ich habe das Ding an sich, das innre Wesen der Welt, benannt nach dem aus ihr, was an uns genaustens bekannt ist: Wille. Freilich ist dies subjektiv, nämlich aus Rücksicht auf das Subjekt des Erkennens gewählter Ausdruck; aber diese Rücksicht ist, da wir Erkenntnis mitteilen, wesentlich. Also ist es unendlich besser, als hätt´ ich es genannt etwa Brahm, oder Brahma, oder Weltseele oder was sonst.”

Zum Brahm - genauer: das Brahman oder das Brahma (2) - notierte Schopenhauer 1855 in eines seiner letzten Manuskripte (Senilia, S. 60) aus einer in Englisch verfassten Schrift des Indologen Max Müller:

Das Brahma = Wille , Urkraft

Hiernach bedeutete das Brahma in den altindischen Schriften ursprünglich Kraft, Wille, treibende schöpferische Macht. Dieses Sanskritwort (hier als Neutrum verstanden) hatte somit etwa die gleiche Bedeutung  wie die im obigen Zitat erwähnte Urkraft der schaffenden Natur.(2) Deshalb darf gefolgert werden, dass Schopenhauers Aussagen zum innersten Wesen der Natur mit denen der Upanishaden im Ergebnis ähnlich, vielleicht sogar sinngemäß übereinstimmend sind. Jedenfalls konnte sich Arthur Schopenhauer wie in anderen Teilen seiner Philosophie auch mit seinen metaphysischen Erkenntnissen über die Natur durch die Upanishaden weitgehend bestätigt finden.


Anmerkungen

(1) Schopenhauers Formulierung, dass “der Urkraft der Natur, dem Dinge an sich, die Vielheit fremd ist”, gilt entsprechend auch für das, was Schopenhauer als “Wille” bezeichnet, denn dieser ist ebenfalls “das Ding an sich” und ohne Vielheit. Insofern liegt es nahe, Wille und Urkraft der Natur hier als gleichbedeutend anzunehmen. Diese Annahme wird außerdem gestützt durch Schopenhauers Ausführungen Über die Objektivation des Willens in der erkenntnislosen Natur, wo es heißt, “daß der Wille, welchen wir in unserem Innern finden [...] der Kern unsers Wesens und jene Urkraft selbst sei, welche den tierischen Leib schafft und erhält” (W II, S. 331 f.).

(2) Zum Brahm: Das Brahman ist Stammform und das Brahma ist Nominativ des Neutrums (vgl. dazu: Helmuth von Glasenapp, Das Indienbild deutscher Denker, Stuttgart 1960, S. 84).

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