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Arthur Schopenhauer

über das

metaphysische Bedürfnis

In der Metaphysik geht es laut Arthur Schopenhauer um das, “was hinter der Natur steckt und sie möglich macht”.(1) Hierbei steht der  Begriff Metaphysik im engen Zusammenhang mit einem höchst bedeutsamen Bedürfnis  des Menschen, nämlich nach dem, was jenseits des Physischen zu suchen, also metaphysisch ist. Schopenhauer beschrieb es sehr eindrucksvoll in einem besonderen Kapitel im Ergänzungsband seines Hauptwerkes. Das Kapitel hat den Titel  Ueber das metaphysische Bedürfnis des Menschen und gehört nach Meinung des Philosophen und Schopenhauer-Forschers Heinrich Hasse “zu den Perlen der philosophischen Literatur überhaupt”.(2)  In diesem berühmten Kapitel schrieb Schopenhauer:

“Den Menschen ausgenommen, wundert sich kein Wesen über sein eigenes Daseyn. ... Erst nachdem das innere Wesen der Natur (der Wille zum Leben in seiner Objektivation) sich durch die beiden Reiche der bewußtlosen Wesen und dann durch die lange und breite Reihe der Thiere... gesteigert hat, gelangt es endlich, beim Eintritt der Vernunft, also im Menschen, zum ersten Male zur Besinnung: dann wundert es sich über seine eigenen Werke und frägt sich, was es selbst sei.

Seine Verwunderung ist aber um so ernstlicher, als es  hier zum ersten Male mit Bewußtseyn dem Tode gegenübersteht, und neben der Endlichkeit alles Daseyns auch die Vergeblichkeit alles Strebens sich ihm mehr oder minder aufdringt.

Mit dieser Besinnung und dieser Verwunderung entsteht daher das dem Menschen allein eigene Bedürfniß einer Metaphysik : er ist sonach ein animal metaphysicum [metaphysisches Wesen].”(3)

 Dieses metaphysische Bedürfnis entwickelte sich im Menschen bereits sehr früh, denn zugleich mit dem ersten tieferen Nachdenken “tritt schon diejenige Verwunderung ein, welche dereinst Mutter der Metaphysik werden soll”.

 Es  sei jedoch, wie Schopenhauer meinte, nicht allein die  “philosophische Verwunderung”, bedingt “durch höhere Entwicklung der Intelligenz”, die dieses metaphysische Bedürfnis hervorruft:

“Ohne Zweifel”, so schrieb Schopenhauer, “ist es das Wissen um den Tod  und neben diesem die Betrachtung des Leidens und der Noth des Lebens, was den stärksten Anstoß zum philosophischen Besinnen und zu metaphysischen Auslegungen der Welt giebt [...]

Dem entsprechend finden wir, daß das Interesse, welches philosophische, oder auch religiöse Systeme einflößen, seinen allerstärksten Anhaltspunkt durchaus an dem Dogma irgend einer Fortdauer nach dem Tode hat [...] Auf demselben Grunde beruht es, daß die eigentlich materialistischen Systeme, wie auch die absolut skeptischen, niemals einen allgemeinen, oder dauernden Einfluß haben erlangen können.”(4)

Deshalb sind es nicht irgendwelche akademisch- philosophischen Vorlesungsräume, sondern vor allem religiöse Stätten der Andacht und des Glaubens, in denen Menschen in Zeiten der Not die Erfüllung ihrer metaphysischen Bedürfnisse erhoffen. Daher zeugen “Tempel und Kirchen, Pagoden und Moscheen, in allen Landen, aus allen Zeiten, in Pracht und Größe, [...] vom metaphysischen Bedürfniß des Menschen, welches, stark und unvertilgbar, dem physischen auf dem Fuße folgt.”(5)

Jedoch ist in diesem Zusammenhang das Wirken von Kirchen und anderen religiösen Institutionen oder einzelner Priester nicht nur positiv zu werten. So wies  Schopenhauer darauf hin:

“Niemals hingegen hat es an Leuten gefehlt, welche auf jenes metaphysische Bedürfniß des Menschen ihren Unterhalt zu gründen und dasselbe möglichst auszubeuten bemüht waren; daher es unter allen Völkern Monopolisten und Generalpächter desselben giebt: die Priester. Ihr Gewerbe mußte ihnen jedoch überall dadurch gesichert werden, daß sie das Recht erhielten, ihre metaphysischen Dogmen den Menschen sehr früh beizubringen, ehe noch die Urtheilskraft aus ihrem Morgenschlummer erwacht ist, also in der ersten Kindheit: denn da haftet jedes wohl eingeprägte Dogma, sei es auch noch so unsinnig, auf immer. Hätten sie zu warten, bis die Urtheilskraft reif ist; so würden ihre Privilegien nicht bestehn können.“(6) 

In alten Zeiten waren es weniger die metaphysischen Dogmen etablierter Religionen als vielmehr die enge Verbindung mit der Natur, die den Menschen metaphysische Erkenntnisse intuitiv näher brachte:  

Doch will es scheinen, daß in den frühen Zeiten der gegenwärtigen Erdoberfläche diesem anders gewesen sei und daß Die, welche der Entstehung des Menschengeschlechts und dem Urquell der organischen Natur bedeutend näher standen, als wir, auch noch theils größere Energie der intuitiven Erkenntnißkräfte, theils eine richtigere Stimmung des Geistes hatten, wodurch sie einer reineren, unmittelbaren Auffassung des Wesens der Natur fähig und dadurch im Stande waren, dem metaphysischen Bedürfniß auf eine würdigere Weise zu genügen: so entstanden in den Urvätern der Brahmanen, den Rischis, die fast übermenschlichen Konceptionen, welche später in den Upanischaden der Veden niedergelegt wurden.”(7)

Für Arthur Schopenhauer war das metaphysische Bedürfnis des Menschen nicht bloß Thema philosophisch-theoretischer Betrachtung, sondern eine persönliche Erfahrung, denn er selbst hatte ein solches Bedürfnis. So berichtete der Schopenhauer-Biograf Wilhelm v. Gwinner, der den Philosophen noch persönlich kannte: “Bei dem ältesten urkundlich überlieferten Glauben der Menschheit suchte er Trost und Beruhigung. Das Oupneckhat [die lateinische Fassung der altindischen Upanishaden] lag auf seinem Tisch, und vor dem Schlafengehen verrichte er darin seine Andacht.”(8) 


Weiteres > Upanishaden .


Anmerkungen
(1)
Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band III: Die Welt als Wille und Vorstellung II, Kap. 17: Ueber das metaphysische Bedürfniß des Menschen, Zürich 1977, S. 191. Schopenhauer nannte die obige Definition “populär”, die er an eine genauere philosophische Bestimmung des Begriffes Metaphysik anfügte. 
(2) Heinrich Hasse, Schopenhauer , München 1926, S. 201.
(3) Arthur Schopenhauer , a. a. O., S. 186 f.
(4) Ebd., S. 187 f.
(5) Ebd., S. 188.
(6) Ebd., S. 189.
(7) Ebd., S. 189.
(8) Wilhelm v. Gwinner, Schopenhauers Leben, 3. Ausg., Leipzig 1910, S. 342.

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