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Arthur Schopenhauer : Wer bin ich ?

Das geheimisvolle Ich  und das wahre Selbst

Von Arthur Schopenhauer ist eine amüsante Anekdote überliefert: Während seiner Zeit in Dresden (1814-1818) besuchte er den Botanischen Garten. Dort fiel dem Aufseher auf, wie Schopenhauer heftig gestikulierend laut zu sich selbst sprach. Verwundert über dieses seltsame Verhalten fragte er ihn, wer er sei. Schopenhauer erwiderte:  “Ja, wenn Sie mir das sagen könnten, wer ich bin, dann wäre ich Ihnen vielen Dank schuldig.`” (1)

Diese kleine Episode ist aufschlussreich, denn sie zeigt, dass  Arthur Schopenhauer nicht nur schlagfertig und humorvoll reagieren konnte, sondern sie weist auch auf ein zentrales philosophisches Problem hin, nämlich der Möglichkeit zur Selbsterkenntnis. Schopenhauer hatte offenbar noch keine Antwort  auf die Frage gefunden: Wer bin ich?  Doch ist es überhaupt möglich, diese Frage zu beantworten?

In seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung stellte Schopenhauer dazu fest: Das Ich ist eine unbekannte Größe, d. h. sich selber ein Geheimnis   (W II 153), und anderer Stelle dieses Werkes: Das Ich ist der finstere Punkt im Bewußtseyn, wie auf der Netzhaut gerade der Eintrittspunkt des Sehnerven blind ist ( W II 562). Wenn dem so ist, dann könnte man annehmen, dass sich die obige Frage nicht beantworten lässt. Dann wäre auch die Inschrift am Apollotempel in Delphi, nämlich der Spruch des altgriechischen Weisen Cheilon, Erkenne dich selbst, wohl nur ein unerreichbares Ideal.

Jedoch nicht nur die griechischen, auch die altindischen Philosophen hatten nach der Antwort gesucht, - und sie dann auch laut vedischer Überlieferung gefunden! Sie ist in den > Upanishaden enthalten, also dort, wo die tiefsten philosophischen Erkenntnisse der vedischen Seher (Rishis)  offenbart sind. Die fundamentale Erkenntnis wurde ausgedrückt durch drei Worte, auf die Arthur  Schopenhauer in seinen Werken oftmals Bezug genommen hatte: > Tat twam asi , was sinngemäß auch bedeutet, das die “Einzelseele”, Atman, also jenes geheimnisvolle Ich, ist mit der “Weltseele”,  > Brahman , identisch. (2)

Lange vor C. G. Jung, obgleich in anderem Sinn (3), hatte bereits Arthur Schopenhauer zwischen dem Ich und dem Selbst deutlich unterschieden. So schrieb er:

Im Herzen steckt der Mensch, nicht im Kopf. Zwar sind wir ... gewohnt als unser eigentliches Selbst  ... das erkennende Ich zu betrachten, welches am Abend ermattet, im Schlafe verschwindet, am Morgen mit erneuerten Kräften heller erstrahlt. Dieses ist jedoch die bloße Gehirn- funktion und nicht unser eigenstes  Selbst. Unser wahres Selbst, der Kern unsers Wesens, ist Das, was hinter jenem steckt und eigentlich nichts anderes kennt, als wollen und nichtwollen, zufrieden und unzufrieden seyn, mit allen Modifikationen der Sache, die man Gefühle, Affekte und Leidenschaften nennt. Dies ist Das, was jenes Andere hervorbringt; nicht mitschläft, wenn jenes schläft, und eben so, wann dasselbe im Tode untergeht, unversehrt bleibt.” (W II 270).
 


 Quellenhinweise
 
( Auszüge aus Wagners Schopenhauer - Register ,
   Stichwort: Ich )

  • Das Ich will, welches alle unsere Handlungen begleitet.
    > E 25, 95.
     
  • Das urteilende Ich ist das Subjekt des Erkennens und
    verwundert sich oft über seinen eigenen Lebenslauf.
    > P I 223 f.
     
  • Jeder setzt sein Ich in das Bewusstsein; daher erscheint es ihm als an die Individualität gebunden, und er wünscht nun endlose Fortdauer dieser nach dem Tode.
    > W II 561 f., 306.
    Ich war immer Ich: Alle, die Ich sagten, waren eben Ich.
    > W II 533, 581 f., 546.
    Ich, ich will dasein ruft Alles, was Bewusstsein hat.
    Folglich ist gerade dieser Wunsch nicht individuell,
    sondern Allen gemein.
    > P II 298.
     
  • Unser eigentliches (wahres) Selbst ist nicht unser erkennendes Ich, sondern der > Wille.
    > W II 270.
     
  • Das Ich ist jene Einheit, in welcher der Wille sich selber Vorstellung wird.
    > W II 294.
    Das erkennende Ich verhält sich zum Willen wie das Bild im Fokus des Hohlspiegels zu diesem selbst und ist nicht das Erste, sondern im Grunde tertiär, indem es den Organismus voraussetzt, dieser aber den Willen.
    > W II 293 f., 314 f., 572; N 20 f., P II 290.
    Das Ich erkennt sich nur als Erscheinung, nicht nach dem, was es an sich sein mag.
    > W I 201; E 267.
    Das ich ist die Verknüpfung dieses Herzens
    mit diesem Kopfe.
    > P II 626.
     
  • Wir haben zwei einander widersprechende Erkenntnisweisen:
    Die eine nach dem > principium individationis
    ( > Individuationsprinzip ); diese zeigt uns alle Wesen
    als fremd, als Nicht-Ich (Egoismus). Die andere hingegen
    ist die nach dem >  Tat twam asi ; sie zeigt uns alle
    Wesen als identisch mit dem eigenen Ich ( > Mitleid ).
    > W I 439 f., 447; W II 690; E 270 ff.; P II 245, 337, 629.
     
  • Der Unterschied zwischen dem guten und bösen Charakter beruht darauf, dass dieser im Andern nur Nicht-Ich, jener Ich will noch einmal erkennt.
    > E 272, 265 f., 257; W II 582.
     
  • Das Mitleid hebt die Schranke zwischen Ich
    und Nicht-Ich auf.
    > E 208 f., 229, 265, 270 f.; P II 219.

Anmerkungen

(1) Arthur Schopenhauer, ein Lebensbild von Arthur Hübscher ,
 2. Auflage, Wiesbaden 1949, S. 54.

(2) Die Erkenntnis des > Tat twam asi steht dem Prinzip der
> Individuation entgegen. Das lässt sich nicht nur  aus der
Philosophie von Arthur Schopenhauer herleiten, sondern auch
aus den Ausführungen zum Ich und der Individuation von
 C. G. Jung folgern:
     “Individuation bedeutet: zum Einzelwesen werden, und,
insofern wir unter Individualität unsere innerste, letzte und unvergleichbare Einzigartigkeit verstehen, zum eigenen Selbst
werden
...
    Ich sehe immer wieder, daß der Individuationsprozeß mit
der Bewußtwerdung des Ich verwechselt und damit das Ich
mit dem Selbst identifiziert wird, woraus natürlich eine
heillose Begriffsverwirrung entsteht ... 
   Das Selbst ist eine dem bewußten Ich übergeordnete Größe.
Es umfaßt nicht nur die bewußte, sondern auch die unbewußte
Psyche und ist daher sozusagen eine Persönlichkeit, die wir
auch sind ...
    Es besteht keine Hoffnung, daß wir je auch nur eine
annähernde Bewußtheit des Selbst erreichen, denn, soviel
wir auch bewußt machen mögen, immer wird doch eine
unbestimmte und unbestimmbare Menge von Unbewußtem
vorhanden sein, welches mit zur Totalität des Selbst gehört.” (Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung, aufgez.
u. hrsg. v. Aniela Jaffé, 2. Auflage, Olten und Freiburg im
Breisgau 1984, S. 412 und 416.)
    Man vergleiche letztere Aussage Jungs mit der obigen von
Schopenhauer, wonach das Ich eine “unbekannte Größe”, ein “Geheimnis” sei!

(3) S. dazu Anm. 2.

 > Arthur Schopenhauer : Egoismus

 > Der Buddhismus - eine Religion ohne Seele?

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