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Arthur Schopenhauer : Zeitgefühl

In seinen Aphorismen zur Lebensweisheit beschrieb Arthur Schopenhauer das Zeitgefühl als Täuschung und die Folgen, die sich hieraus im Leben ergeben können:

"Überhaupt ist es eine der größten und häufigsten Torheiten, dass man weitläufige Anstalten zum Leben macht, in welcher Art auch immer dies geschehe. Bei solchen nämlich ist zuvörderst auf ein ganzes und volles Menschenleben gerechnet; welches jedoch sehr Wenige erreichen. Sodann fällt es, selbst wenn sie so lange leben, doch für die gemachten Pläne zu kurz aus; da deren Ausführung immer sehr viel mehr Zeit erfordert, als angenommen war: ferner sind solche, wie alle menschlichen Dinge, dem Misslingen, den Hindernissen so vielfach ausgesetzt, dass sie sehr selten zum Ziele gebracht werden.

Endlich, wenn zuletzt auch Alles erreicht wird, so waren die Umwandlungen, welche die Zeit an uns selbst hervorbringt, außer Acht und Rechnung gelassen; also nicht bedacht worden, dass weder zum Leisten, noch zum Genießen, unsere Fähigkeiten das ganze Leben hindurch vorhalten. Daher kommt es, dass wir oft auf Dinge hinarbeiten, welche, wenn endlich erlangt, uns nicht mehr angemessen sind; wie auch, dass wir mit den Vorarbeiten zu einem Werke die Jahre hinbringen, welche derweilen unvermerkt uns die Kräfte zur Ausführung desselben rauben.

So geschieht es denn oft, dass der mit so langer Mühe und vieler Gefahr erworbene Reichtum uns nicht mehr genießbar ist und wir für Andere gearbeitet haben; oder auch, dass wir den durch vieljähriges Treiben und Trachten endlich erreichten Posten auszufüllen nicht mehr im Stande sind: die Dinge sind zu spät für uns gekommen; Oder auch umgekehrt, wir kommen zu spät mit den Dingen, da nämlich, wo es sich um Leistungen, oder Produktionen handelt: der Geschmack der Zeit hat sich geändert; ein neues Geschlecht ist herangewachsen, welches an den Sachen keinen Anteil nimmt; Andere sind, auf kürzeren Wegen, uns zuvorgekommen ...

Der Anlass zu diesem häufigen Missgriff ist die unvermeidliche optische Täuschung des geistigen Auges, vermöge welcher das Leben, vom Eingange aus gesehn, endlos, aber wenn man vom Ende der Bahn zurückblickt, sehr kurz erscheint. Freilich hat sie ihr Gutes: denn ohne sie käme schwerlich etwas Großes zu Stande.”*


* Aus: Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden, Zürich 1977, Band VIII: Aphorismen zur Lebensweisheit, S. 449 f. (Obiges Zitat wurde zur besseren Lesbarkeit geringfügig der heutigen Rechtschreibung angepasst.)

> Arthur Schopenhauer : Aphorismen zur Lebensweisheit

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