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Arthur Schopenhauer

 über den

Willen zum Leben

Jeder Blick auf die Welt, welche zu erklären die Aufgabe des Philosophen ist, bestätigt und bezeugt, daß Wille zum Leben , weit entfernt eine beliebige Hypostase, oder gar ein leeres Wort zu seyn, der allein wahre Ausdruck ihres innersten Wesens ist.

Alles drängt und treibt zum Daseyn , wo möglich zum organischen, d. i. zum Leben, und danach zur möglichsten Steigerung desselben: an der thierischen Natur wird es dann augenscheinlich, daß Wille zum Leben der Grundton ihres Wesens, die einzige unwandelbare und unbedingte Eigenschaft desselben ist.

Man betrachte diesen universellen Lebensdrang, man sehe die unendliche Bereitwilligkeit, Leichtigkeit und Ueppigkeit, mit welcher der Wille zum Leben, unter Millionen Formen, überall und jeden Augenblick, mittelst Befruchtungen und Keimen, ja, wo diese mangeln, [ ...], sich ungestüm ins Daseyn drängt, jede Gelegenheit ergreifend, jeden lebens- fähigen Stoff begierig an sich reißend: und dann wieder werfe man einen Blick auf den entsetzlichen Allarm und Wilden Aufruhr desselben, wann er in irgend einer einzelnen Erscheinung aus dem Daseyn weichen soll; zumal wo dieses bei deutlichem Bewußtseyn eintritt. Da ist es nicht anders, als ob in dieser einzigen Erscheinung die ganze Welt auf immer vernichtet werden sollte, und das ganze Wesen eines so bedrohten Lebenden ver- wandelt sich sofort in das verzweifelteste Sträuben und Wehren gegen den Tod. Man sehe z. B. die unglaubliche Angst eines Menschen in Lebensgefahr, die schnelle und so ernstliche Theilnahme jedes Zeugen derselben und den gränzenlosen Jubel nach der Rettung. Man sehe das starre Entsetzen, mit welchem ein Todesurtheil vernommen wird, das tiefe Grausen, mit welchem wir die Anstalten zu dessen Vollziehung erblicken, und das herzzerreißende Mitleid, welches uns bei dieser selbst ergreift. Da sollte man glauben, daß es sich um etwas ganz Anderes handelte, als bloß um einige Jahre weniger einer leeren, traurigen, durch Plagen jeder Art verbitterten und stets ungewissen Existenz; vielmehr müßte man denken, daß Wunder was daran gelegen sei, ob Einer etliche Jahre früher dahin gelangt, wo er, nach einer ephemeren [vorübergehenden] Existenz, Billionen Jahre zu seyn hat. -

An solchen Erscheinungen also wird sichtbar, daß ich mit Recht als das nicht weiter Erklärliche, sondern jeder Erklärung zum Grunde zu Legende, den Willen zum Leben gesetzt habe, und daß dieser, weit  entfernt, wie das Absolutum, das Unendliche, die Idee und ähnliche Ausdrücke mehr, ein leerer Wortschall zu seyn, das Allerrealste ist, was wir kennen, ja, der Kern der Realität selbst. (1)                                                      

Nachwort der Redaktion

Der Wille zum Leben ist laut obigem Zitat ein universeller Lebensdrang. Ihm liegt, wie Arthur Schopenhauer in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung näher darlegte, ein metaphysischer Wille zugrunde, der sich in allen Erscheinungsformen dieser Welt manifestiert. Somit ist dieser metaphysische Wille die eigentliche Ursache allen Lebens und, da Leben und Leid untrennbar zusammengehören, auch allen Leides. Deshalb findet alles Leid erst sein Ende, nachdem dieser Wille  zur Ruhe gekommen ist. Dann kann, was Schopenhauer in die wunderbare Worte fasste, jener Friede eintreten, der höher ist als alle Vernunft ... (2)
                                                             

> Fressen und Gefressen werden - ein Naturprinzip?  (Blogbeitrag)
 

Anmerkungen
(1)
Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden (Zürcher Ausgabe) , Band III: Die Welt als Wille und Vorstellung II, Kap. 28: Charakteristik desWillens zum Leben, Zürich 1977, S. 410 f.
(2) Arthur Schopenhauer , a. a. O., Band II: Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 507. 

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