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Arthur Schopenhauer

Arthur Schopenhauer
über
unser  wahres Selbst ,
 den  Kern unseres Wesens

Worauf beruht die Identität der Person ?

Redaktion

Nicht auf der Materie des Leibes: sie ist nach wenigen Jahren eine andere. Nicht auf der Form desselben: sie ändert sich im Ganzen und in allen Theilen; bis auf den Ausdruck des Blickes, an welchem man daher auch nach vielen Jahren einen Menschen noch erkennt; welches beweist, daß trotz allen Veränderungen, die an ihm die Zeit hervorbringt, doch etwas in ihm davon völlig unberührt bleibt: es ist eben Dieses, woran wir, auch nach dem längsten Zwischenräume, ihn wiedererkennen und den Ehemaligen unversehrt wiederfinden; eben so auch uns selbst: denn wenn man auch noch so alt wird; so fühlt man doch im Innern sich ganz und gar als den selben, der man war, als man jung, ja, als man noch ein Kind war.

Dieses, was unverändert stets ganz das Selbe bleibt und nicht mitaltert, ist eben der Kern unsers Wesens, welcher nicht in der Zeit liegt. - Man nimmt an, die Identität der Person beruhe auf der des Bewußtseyns. Versteht man aber unter dieser bloß die zusammenhängende Erinnerung des Lebenslaufs; so ist sie nicht ausreichend.

Wir wissen von unserm Lebenslauf allenfalls etwas mehr, als von einem ehemals gelesenen Roman; dennoch nur das Allerwenigste. Die Hauptbegebenheiten, die interessanten Scenen haben sich eingeprägt: im Uebrigen sind tausend Vorgänge vergessen, gegen einen, der behalten worden. Je älter wir werden, desto spurloser geht Alles vorüber. Hohes Alter, Krankheit, Gehirnverletzung, Wahnsinn, können das Gedächtniß ganz rauben. Aber die Identität der Person ist damit nicht verloren gegangen. Sie beruht auf dem identischen Willen und dem unveränderlichen Charakter desselben. Er eben auch ist es, der den Ausdruck des Blicks unveränderlich macht. Im Herzen steckt der Mensch; nicht im Kopf.

Zwar sind wir, in Folge unserer Relation mit der Außenwelt, gewohnt, als unser eigentliches Selbst das Subjekt des Erkennens, das erkennende Ich, zu betrachten, welches am Abend ermattet, im Schlafe verschwindet, am Morgen mit erneuerten Kräften heller strahlt. Dieses ist jedoch die bloße Gehirnfunktion und nicht unser eigenstes Selbst.

Unser wahres Selbst, der Kern unsers Wesens, ist Das, was hinter jenem steckt und eigentlich nichts Anderes kennt, als wollen und nichtwollen, zufrieden und unzufrieden seyn, mit allen Modifikationen der Sache, die man Gefühle, Affekte und Leidenschaften nennt. Dies ist Das, was jenes Andere hervorbringt; nicht mitschläft, wann jenes schläft, und eben so, wann dasselbe im Tode untergeht, unversehrt bleibt. -

Alles hingegen, was der Erkenntniß angehört, ist der Vergessenheit ausgesetzt: selbst die Handlungen von moralischer Bedeutsamkeit sind uns, nach Jahren, bisweilen nicht vollkommen erinnerlich, und wir wissen nicht mehr genau und ins Einzelne, wie wir in einem kritischen Fall gehandelt haben. Aber der Charakter selbst, von dem die Thaten bloß Zeugniß ablegen, kann von uns nicht vergessen werden: er ist jetzt noch ganz derselbe, wie damals. Der Wille selbst, allein und für sich, beharrt: denn er allein ist unveränderlich, unzerstörbar, nicht alternd, nicht physisch, sondern metaphysisch, nicht zur Erscheinung gehörig, sondern das Erscheinende selbst.
                                       Arthur Schopenhauer , W II, S. 269 f.

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