Alle Verstellung ist Werk der Reflexion *; aber auf die Dauer und unausgesetzt ist sie nicht haltbar: auch wird sie dann meistens erkannt und verfehlt ihre Wirkung. Im hohen Lebensdrange, wo es schneller Entschlüsse, kecken Handelns, raschen und festen Eingreifens bedarf, ist zwar Vernunft nöthig, kann aber, wenn sie die Oberhand gewinnt und das intuitive, unmittelbare, rein verständige Ausfinden und zugleich Ergreifen des Rechten verwirrend hindert und Unentschlossenheit herbeiführt, leicht Alles verderben.
Endlich geht auch Tugend und Heiligkeit nicht aus Reflexion * hervor, sondern aus der innern Tiefe des Willens und deren Verhältniß zum Erkennen. Die auf das Ethische [ > Ethik ] sich beziehenden Dogmen können in der Vernunft ganzer Nationen die selben seyn, aber das Handeln in jedem Individuo ein anderes, und so auch umgekehrt: das Handeln geschieht, wie man spricht, nach Gefühlen: d. h. eben nur nicht nach Begriffen, nämlich dem ethischen Gehalte nach.
Die Dogmen beschäftigen die müßige Vernunft: das Handeln geht zuletzt unabhängig von ihnen seinen Gang, meistens nicht nach abstrakten, sondern nach unausgesprochenen Maximen [Grundsätzen], deren Ausdruck aber der ganze Mensch selbst ist. Daher, wie verschieden auch die religiösen Dogmen der Völker sind, so ist doch bei allen die gute That von unaussprechlicher Zufriedenheit, die böse von unendlichem Grausen begleitet: erstere erschüttert kein Spott: von letzterem befreit keine Absolution des Beichtvaters.
Jedoch soll hiedurch nicht geleugnet werden, daß bei der Durchführung eines tugendhaften Wandels Anwendung der Vernunft nöthig sei: nur ist sie nicht die Quelle desselben; sondern ihre Funktion ist eine untergeordnete, nämlich die Bewahrung gefaßter Entschlüsse, das Vorhalten der Maximen, zum Widerstand gegen die Schwäche des Augenblicks und zur Konsequenz des Handelns.
Dasselbe leistet sie [ die Vernunft ] am Ende auch in der Kunst, wo sie doch eben so in der Hauptsache nichts vermag, aber die Ausführung unterstützt, eben weil der Genius nicht in jeder Stunde zu Gebote steht, das Werk aber doch in allen Theilen vollendet und zu einem Ganzen gerundet seyn soll. [W I, S. 67 ff.]
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