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Arthur Schopenhauer

über die

Selbsterkenntnis

Aus: Schopenhauer-Lexikon.
Ein philosophisches Wörterbuch,
nach Arthur Schopenhauers sämmtlichen Schriften
 und handschriftlichem Nachlaß
bearb. von Julius Frauenstädt. Band 2, Leipzig 1871, S. 320 ff.
 (Stichwort: Selbsterkenntnis )

Hinweis:
Schopenhauer verwendete im Zusammenhang mit dem Begriff Selbsterkenntnis das Wort Spekulation. Hierunter verstand er den “Versuch, die Vernunft einmal ganz allein ihren eigenen Kräften zu überlassen” (> Wagners Schopenhauer-Register, S. 386 mit Verweis auf G 129 und P I 3, 155). Somit gebrauchte Schopenhauer diesen Begriff  im Sinne von Erkenntnis allein durch > Vernunft

1) Selbsterkenntnis im philosophischen Sinne.

Die Selbsterkenntnis ist der Schlüssel zur Erkenntnis des inneren Wesens der Dinge, d. h. der Dinge an sich selbst. (Auf welchem Wege allein zur Erkenntnis des Dinges an sich zu gelangen ist.)

Der letzte Zweck und das Ziel aller Spekulation [s. o. Hinweis] ist nicht, wie die philosophischen Narren heut zu Tage glauben, Erkenntnis Gottes, sondern Erkenntnis des eigenen Selbst, wie schon am Tempel zu Delphi zu lesen, oder von Kant zu lernen war. (> H 295 f.)

2) Individuelle Selbsterkenntnis.

a) Schwierigkeit der individuellen Selbsterkenntnis.

Die Hauptschwierigkeit, welche der Selbsterkenntnis (dem γνωθι σαυτον) [Erkenne dich selbst!] entgegensteht, ist der Egoismus, die Eigenliebe, die uns hindert, den Blick der Entfremdung auf uns zu werfen, welcher die Bedingung der objektiven Auffassung unserer selbst ist.
(> P II 629.)

Aus der primären Natur des Willens und der sekundären des Intellekts lässt es sich erklären, dass wir oft nicht wissen, was wir wünschen, oder was wir fürchten, und dass wir sogar oft über das eigentliche Motiv, aus dem wir etwas tun oder unterlassen, ganz im Irrtum sind, bis etwa ein Zufall uns das Geheimnis aufdeckt.
(> W II 235.)

b) Bedingtheit der individuellen Selbsterkenntnis
                     durch die Erfahrung.

Man lernt seinen eigenen Charakter, wie den anderer Individuen nur durch Erfahrung kennen.

Welche Kräfte zum Leiden und Tun Jeder in sich trägt, weiß er nicht, bis ein Anlass sie in Tätigkeit setzt; - wie man dem im Teiche ruhenden Wasser mit glattem Spiegel nicht ansieht, mit welchem Toben und Brausen es vom Felsen unversehrt herabzustürzen, oder wie hoch es als Springbrunnen sich zu erheben fähig ist; - oder auch, wie man die im eiskalten Wasser latente Wärme nicht ahndet. (> P II 630.)

c) Wichtigkeit der individuellen Selbsterkenntnis.

Wie der Arbeiter, welcher ein Gebäude ausführen hilft, den Plan des Ganzen entweder nicht kennt, oder doch nicht immer gegenwärtig hat; so verhält der Mensch, indem er die einzelnen Tage und Stunden seines Lebens abspinnt, sich zum Ganzen seines Lebenslaufes und des Charakters desselben. Je würdiger, bedeutender, planvoller und individueller dieser ist, desto mehr ist es nötig und wohltätig, dass der verkleinerte Grundriss desselben, der Plan ihm bisweilen vor die Augen komme. Freilich gehört auch dazu, dass er einen kleinen Anfang in dem γνωθι σαυτον [Erkenne dich selbst!] gemacht habe, also wisse, was er eigentlich, hauptsächlich und vor allem Anderen will, was also für sein Glück das Wesentlichste ist, sodann was die zweite und dritte Stelle nach diesem einnimmt, wie auch dass er erkenne, welches im Ganzen sein Beruf, seine Rolle und sein Verhältnis zur Welt sei. (> P I 439 f.) Ohne diese Kenntnis lebt man planlos, - ein Schiffer ohne Kompass. (> H 443.)

 

Anmerkung

Ergänzend zu obigen Zitaten aus Frauenstädts Schopenhauer-Lexikon sei zum Thema Selbsterkenntnis auch auf folgende aus
 > Wagners Schopenhauer-Register (S. 374 f. ) hingewiesen:

  • Der Selbsterkenntnis steht schon beim ersten Schritte die Schwierigkeit entgegen, daß man trotz allen Spiegeln, nicht eigentlich weiß, wie man aussieht. Man vermag nicht auf sein eigenes Bild im Spiegel den Blick der Entfremdung zu werfen, welcher die Bedingung der Objektivität der Auffassung desselben ist. > P II 629.
     
  • Wir können unser eigenes Tun selten moralisch richtig beurteilen, weil wir über unsere wahren Motive  desselben meistens im Irrtum sind.
    > W I 436;  W II 235; E 202.
     
  • Wir verheimlichen oft vor uns selbst die Motive unsers Tun; wir belügen uns selbst.
    > W I 350; W II 235, 245; E 40, 164; N 78; P II 69; H 40 f.
     
  • Die Erkenntnis, die wir vom einen Selbst haben, ist keineswegs eine erschöpfende und bis auf den letzten Grund klare.
     > E 206.
     
  • Wie lernen uns selbst erst nach und nach aus der Erfahrung kennen, als ganz Andere, als wofür wir uns a priori [von vornherein] hielten [, und oft, so fügte Schopenhauer hinzu, erschrecken wir dann über uns selbst].
    > W I 349, 356 f.; E 48 f., 178; P I 523.
     
  • Kenntnis seiner eigenen Gesinnung und seiner Fähigkeiten jeder Art und ihrer unabänderlichen Grenzen ist der sicherste Weg, um zur möglichsten Zufriedenheit mit sich selbst zu gelangen.
    > W I 361; H 443 f.
     
  • Die eigenen Fehler und Laster bemerkt man nicht.  Dafür hat Jeder am Andern einen Spiegel, in welchem er die eigenen Unarten und Fehler  entdeckt.
    > P I 486.
     
  • Den Tadel seiner Feinde sollte man zur Selbsterkenntnis benutzen.
    > P I 489.

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