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Arthur Schopenhauer

Arthur Schopenhauer *

Redaktion

Arthur Schopenhauer in Berlin 1820-1831

- ein Beitrag zur Biografie des unangepassten Philosophen

Berlin war für Arthur Schopenhauer , als er sich an der dortigen Universität als Philosophiedozent habilitieren wollte, keine unbekannte Stadt, denn er hatte schon zwischen 1811 und 1813 an der Berliner Universität studiert. So konnte er sich an einen seiner damaligen Lehrer, Professor Martin Hinrich Lichtenstein, wenden und ihn wegen seiner geplanten Habilitation in Berlin  um Rat bitten.

In einem Brief von Anfang Dezember 1819 an Lichtenstein begründete Schopenhauer, warum er hierzu gerade Berlin gewählt habe,  mit dem Hinweis, “daß ich dort wohl mehr als irgendwo ein Publikum fände, wie es meinen Vorträgen angemessen ist, nämlich ein schon reiferes und gebildetes [...], ja es kommt hiezu noch, daß die höhere Geisteskultur, welche Teutschland heutzutage vor andern Ländern auszeichnet, nirgends so sehr und so allgemein zu Hause ist als gerade in Berlin ...” (1)

Einige Jahre später, etwa um 1821/22,  also nachdem er sich an der Berliner Universität habilitiert hatte, um dort als Privatdozent Vorlesungen über Philosophie zu halten und schließlich Professor werden zu können, notierte Schopenhauer  in sein geheimes Notizbuch:  “Klima und Lebensweise in Berlin sagen mir nicht zu.(2) Hinzu kam, dass seine Hoffnungen auf eine akademische Laufbahn vergeblich blieben. Seine Jahre in Berlin waren für ihn eine Zeit der unerfüllten Wünsche, ja der großen Enttäuschungen und Misserfolge. Schon deshalb ist es verständlich, wenn Schopenhauer dieser Stadt keine besonderen Sympathien entgegenzubringen vermochte.  Heinrich Hasse schrieb über diese Zeit in seinem vorzüglichen Buch Schopenhauer :

“Die Rückkehr nach Deutschland [von seiner Italienreise 1819] läßt den Entschluß des Philosophen zur Reife gelangen, durch Antritt der akademischen Laufbahn sich eine praktische Lebensstellung zu begründen, welche ihm die Aussicht bot, in öffentlicher Lehrtätigkeit zu fruchtbarer Wirksamkeit zu gelangen.

Die Gabe eines sehr eindringlichen und lebendigen mündlichen Vortrags, deren er sich rühmen durfte, bestärkt ihn in der Hoffnung auf sicheren Lehrerfolg.

Nach Einreichung seiner Lebensbeschreibung, des in seiner Art klassischen vitae curriculum [> Autobiografie], habilitiert sich Schopenhauer im März 1820 an der Universität Berlin. Er hält vor versammelter Fakultät seine Probevorlesung Über die vier verschiedenen Arten der Ursachen und gerät bei dem nachfolgenden Kolloquium in eine Kontroverse mit Hegel, die sich zu Schopenhauers Gunsten entscheidet.

Aber das Unternehmen, zu dem die Habilitation den Auftakt bildete, führt zu einem völligen Mißerfolg.

Vierundzwanzig Semester hindurch hat Schopenhauer der Berliner Universität dem Namen nach angehört, aber nur während eines einzigen Semesters tatsächlich gelesen. Mit kühner Ostentation [Herausforderung] wählt er für seine Vorlesung genau die Stunden, in denen Hegel vor einem großen Hörerkreise las, erfüllt von dem stolzen Vertrauen, daß das echte und wertvolle Geistesgut durch seine ihm innewohnende Macht fähig und berufen sei, das unechte und minderwertige aus dem Felde zu schlagen.

Arthur Schopenhauer :  Vorlesung in Berlin

Schopenhauers eigenhändige Ankündigung seiner
                 Vorlesung an der Berliner Universität , 1820
(3)

Nach dem Sommersemester 1820, in dem Schopenhauer für seine sechsstündige Vorlesung eine bescheidene Anzahl von Zuhörern gefunden, ist aus Mangel an solchen keine weitere mehr zustande gekommen.

Die ungemein klare, lebendige Form und der fesselnde Inhalt der neuerdings vollständig veröffentlichten Vorlesungen lassen den akademischen Mißerfolg des jungen Dozenten besonders auffällig erscheinen. ... [4]

Solche Erfahrungen mußten dem ohnehin düster gestimmten Geist des Philosophen reichen Stoff zu vertiefter Entzweiung mit seinem Zeitalter zuführen, dessen philosophische Häupter er schont in seiner Probevorlesung als Verderber echter Philosophie gebrandmarkt hatte, nicht ohne Hinweis auf den künftigen Rächer, welcher nicht ausbleiben werde.

Anders als geplant war, gestaltet sich unter solchen Verhältnissen Schopenhauers Berliner Existenz. Statt, im akademischen Leben festen Fuß fassend, für die Verbreitung der als wahr erkannten Lehre wirken zu können, sieht er sich, vom öffentlichen Leben abgeschnitten, auf sich selber zurückgewiesen.

Nachdem 1825 ein erneuter Versuch, eine Vorlesung zustande zu bringen, gescheitert ist, wird kein weiterer unternommen. Statt dessen tritt die Pflege eigener wissenschaftlicher Bestrebungen in den Vordergrund. So sind diese Berliner Jahre Schopenhauers erfüllt von intensiven naturwissenschaftlichen Studien. 

Ermans Vorlesungen über Elektromagnetismus fesseln seine Aufmerksamkeit. Flourens' Entdeckung der Funktionen des großen und kleinen Gehirnes regt ihn an zu vertieftem Studium der Physiologie. In den weiteren Verlauf dieser Studien fällt die Beschäftigung mit dem Hauptwerk des französischen Physiologen Cabanis.

Als eine Periode der Unfruchtbarkeit hat man diese Jahre im Leben des Philosophen in gewissem Sinne zutreffend gekennzeichnet. Durch Vollendung seines Hauptwerks sieht Schopenhauer das Werk seines Lebens vollbracht. Mit aufmerksamem Interesse verfolgt er die Stimmen der Öffentlichkeit, in denen der Eindruck des von ihm Geschaffenen seinen Widerhall findet, so wenige ihrer auch sind.

Die Überzeugung von dem unsterblichen Wert seiner Leistung steht ihm von vornherein fest. Ich habe gelebt, um mein Buch zu schreiben: daher von dem, was ich in der Welt wollte und sollte, sind 99/100 getan und gesichert: der Rest ist Nebensache, folglich auch meine Person und ihr Schicksal - schreibt er 1822 an [seinen Freund Friedrich Gotthilf] Osann. Wie wenig Notiz man von meinem Buche nimmt, fährt er fort, weiß ich sehr wohl: aber auch ebenso wohl, daß das nicht immer so bleiben wird. Das Metall, woraus ich und mein Buch sind, ist gar nicht häufig auf diesem Planeten, wird zuletzt erprobt und aufbewahrt: ich sehe das zu deutlich und zu lange, als daß ich da eine Täuschung annehmen könnte: noch zehn Jahre Nichtbeachtung würden mich gar nicht irremachen.

Die ersten öffentlichen Stimmen waren wenig geeignet, den Denker von der Empfänglichkeit und Reife seiner Mitwelt für geistige Großtaten zu überzeugen. Herbarts Besprechung im Hermes vermochte bei aller Ausführlichkeit und kritischen Schärfe dem Werke doch keineswegs gerecht zu werden.

Freundlicher wirkten die wenigen Zeilen, die Jean Paul ihm gewidmet. Die Rezension Benekes, eines jüngeren Berliner Kollegen, in der Jenaer Literaturzeitung endlich führte infolge gewisser Inkorrektheiten des Rezensenten zu einem verdrießlichen literarischen Konflikt. Die Beziehungen Schopenhauers zu anderen Berliner Fachgenossen scheinen infolge dieser Angelegenheit nicht ungetrübt geblieben zu sein. Ein langwieriger Prozeß, in den Schopenhauer verwickelt wird, steigert die Unerfreulichkeit seiner Lage.

So wird ein befreiender Entschluß gefaßt: der Berliner Aufenthalt wird 1822 durch eine zweite Reise nach Italien unterbrochen, die Schopenhauer noch einmal aufgelegt zu reger Geselligkeit zeigt, obwohl er diesmal seine privaten Studien während der Reise gewissenhaft fortsetzt. “Herzlich gern“ läßt er nach eigenem Geständnis das „dürre Berlin“ hinter sich und bald darauf sein „ganzes tinteklecksendes, wortkramendes Vaterland [Schopenhauers Brief vom 24.05.1822 an seinen Freund Osann].

Auf dem Rückwege ist Schopenhauer gezwungen, die Wintermonate krank in München zuzubringen und in Gastein Erholung zu suchen. Im Mai 1825 ist er nach längerem Aufenthalt in Dresden wieder in Berlin.

Seit seiner zweiten italienischen Reise beginnt Schopenhauer ein Leben in stolzer Abgeschlossenheit zu führen. Er wird systematisch ungesellig. Nur wenigen zugänglich, lebt er in dem selbstgeschaffenen Bau seiner philosophischen Weltanschauung, dessen Solidität er durch vielseitige Studien zu bestätigen sucht.

Seine literarischen Bemühungen in dieser Periode sind mit ihren bescheidenen Zielen beredte Zeugnisse der inneren Lage des großen Denkers, dessen Produktivität erschöpft scheint und keine wirksame Neubelebung von außen her empfängt: Er trägt sich mit der Absicht einer Übersetzung der religionsphilosophischen Schriften David Humes und denkt an eine Neuausgabe Giordano Brunos. Er verhandelt mit einem englischen Verleger über eine Ausgabe der Werke Kants, bald darauf mit einem französischen über eine solche der Werke Goethes und bietet hierzu als sprachkundiger Kenner seine Dienste an, ohne daß einer dieser Pläne sich verwirklicht.

Doch wendet sich Schopenhauer auch in dieser Periode scheinbarer Untätigkeit neuen Gebieten zu, die seinen regsamen Geist auf sich lenken. Zu der schon staunenswerten Beherrschung der wichtigsten europäischen Sprachen tritt in diesen Jahren die Aneignung des Spanischen auf Grund selbständiger Studien, denen wir die meisterhafte Übersetzung der Aphorismensammlung des Balthasar Grazian verdanken, welche unter dem Namen des Handorakels der Weltklugheit bekannt ist. Aber alle diese Bemühungen Schopenhauers liegen nur in der Peripherie seiner geistigen Existenz.

Zu Beginn seines Berliner Aufenthalts und später war Schopenhauer der Gedanke der Heirat ernstlich nahegetreten und nach redlicher Selbstbesinnung zurückgewiesen worden. Am Ende dieser Periode haben die allgemeinen Erfahrungen des Verkehrs mit den Menschen den Denker, trotz der Berührung mit Männern wie Alexander von Humboldt, Tieck und Chamisso, zum überzeugten Freund ungestörten Alleinseins werden lassen.

Ein letzter Versuch, durch Umhabilitierung an die Universität Heidelberg sich einen akademischen Wirkungskreis zu schaffen, schlägt fehl. Die Auskunft von seiten des dortigen Dekans der philosophischen Fakultät lautet so entmutigend, daß Schopenhauer kaum hoffen durfte, an einer anderen Hochschule Deutschlands erfolgreicher zu wirken als er es in Berlin getan.

Auch wirtschaftliches Unglück sollte ihm nicht erspart bleiben. So geht ihm ein Teil des aus dem Danziger Zusammenbruch geretteten Vermögens durch ungünstige Kapitalanlage wieder verloren.

Mißerfolge, Verluste, enttäuschte Hoffnungen kennzeichnen den ersten Abschnitt des Mannesalters unsres Denkers. Seine nächsten Familienbeziehungen waren zerrissen, seine öffentliche Lehrtätigkeit hatte geendet, nachdem sie kaum begonnen, ohne daß ein geeigneter Wirkungskreis anderer Art sich ihm erschlossen hätte. Keine in der Richtung seiner philosophischen Aufgabe gelegene fruchtbare Anknüpfung hatte sich ergeben.

Dazu kommt finanzielles Mißgeschick der angedeuteten Art. Alle Hoffnungen Schopenhauers mußten sich unter solchen Umständen auf sein Werk richten, dessen Erfolg er in unvermindertem Vertrauen erwartet.

Zehn Jahre nach Erscheinen der Welt als Wille und Vorstellung wendet sich der Autor an seinen Verleger, um über den Absatz seines Werkes Auskunft zu erhalten. Die niederschlagende Antwort lautet: noch seien 150 Exemplare auf Lager; die Zahl der verkauften Exemplare aber lasse sich nicht feststellen, da vor mehreren Jahren ein beträchtlicher Teil der Auflage zu Makulatur gemacht worden sei, weil der Absatz ein sehr unbedeutender gewesen.

Dem unerquicklichen Zwischenzustand zwischen Beruf und Berufslosigkeit, in dem Schopenhauer sich seit Jahren befand, macht seine Übersiedlung nach Frankfurt a. M. ein Ende. Aber nicht ohne äußeren Anstoß verläßt er Berlin, in welchem er sich niemals wohlgefühlt hatte. In der Neujahrsnacht 1830/31 erlebt Schopenhauer einen Traum, der ihm auf seinen Tod im bevorstehenden Jahre zu deuten scheint. Als nun in diesem Jahre die Cholera, von Osten kommend, herannaht, verläßt er in Eile Berlin und entgeht der mordenden Seuche, der unter vielen anderen sein großer Antipode Hegel erliegt.

Wie im Frühjahr 1813, so gleicht im Sommer 1831 Schopenhauers Aufbruch von der preußischen Hauptstadt einer Flucht. Heimatlos, beruflos und um große Hoffnungen betrogen, bringt er mehrere einsame Monate zu Frankfurt a. M. in tiefer innerer Verdüsterung zu.

Nach probeweisem einjährigen Aufenthalt in Mannheim und sorgfältiger Abwägung der Vorzüge und Nachteile beider Städte fällt die Wahl zugunsten Frankfurts a. M. Ein zweiter großer Wendepunkt im Leben Schopenhauers ist eingetreten. [5] Der Verzicht auf berufliches Wirken ist endgültig geleistet. Die Periode einsamer Zurückgezogenheit bricht an.”(6)

Fortsetzung 

      >  Arthur Schopenhauer - der Weise von Frankfurt


Anmerkungen der Redaktion

* Arthur Schopenhauer , 1815,
Ölgemälde von Ludwig Sigismund Ruhl

(1) Arthur Schopenhauer , Gesammelte Briefe,
hrsg. von Arthur Hübscher, 2. Aufl., Bonn 1987, S. 44 f.

(2)  Arthur Schopenhauer , Der handschriftliche Nachlaß
in fünf Bänden, hrsg. von Arthur Hübscher,
Band 4, II, München 1985, S. 106.

(3) Ausschnitt aus: Rudolf Borch, Schopenhauer,
Berlin 1941, S. 189.

(4) Zum Scheitern Schopenhauers als Universitätslehrer in Berlin meinte Wilhelm v. Gwinner, der persönlich Schopenhauer noch kannte und sein Testamentsvollstrecker wurde, in seiner Biografie Schopenhauers Leben:
        “Aber war dies [also Schopenhauer] der Mann, der auf dem philosophischen Katheder einer deutschen Universität seiner Zeit Erfolg erwarten durfte? Er selbst rühmte von sich [...], daß der mündliche Vortrag seine starke Seite sei, und wir haben kein Grund dies zu bezweifeln: denn seine Rede floß noch im Greisenalter lebendig, klar und gefällig, auch hatte er den wahren Begriff des akademischen Lehrers und brachte wirklichen innern Beruf dazu mit - nannte er sich doch noch in seinem letzten Lebensjahre den doyen der deutschen Philosophen.[...] Aber schon, wenn wir den Inhalt seiner Lehre betrachten, müssen wir sagen, daß er so wenig öffentlich lehren konnte wie Spinoza. Äußerte er doch selbst, noch als Greis, nachdem dem Privatdozenten Kuno Fischer in Heidelberg [...] das Katheder verboten worden war, es sei ihm recht geschehen, weil er Spinozas Ethik, welche die Macht mit dem Recht vertauschte, den Studenten angepriesen habe: das könne man nicht dulden.” (Wilhelm v. Gwinner, Schopenhauers Leben, 3. Auflage, Leipzig 1910, S. 167.]
        Ergänzend hierzu sei darauf hingewiesen, dass diese offenbar gewandelte Einstellung zu Spinoza wohl auch mit Schopenhauers Tierliebe zusammenhing (S. Arthur Schopenhauer über > Tiere und > Tierschutz). So empfand Schopenhauer, wie er erst in dritten Auflage des zweiten Bandes seines Hauptwerkes hinzufügte, Spinozas “Verachtung der Thiere” als “absurd und abscheulich  zugleich”. Spinoza habe die Tiere “, als bloße Sachen zu unserm Gebrauch, für rechtlos erklärt”. ( Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden, Zürcher Ausgabe, Zürich 1977, Band IV, S. 756.)

(5) Der erste Wendepunkt in Schopenhauers Leben war 1807, als es ihm durch den Zuspruch von Karl Ludwig Fernow, dem Freund und Berater seiner Mutter, mit ihrem Einverständnis möglich wurde, die Kaufmannslehre aufzugeben und stattdessen ein Gymnasium zu besuchen, um  sich dann auf der Universität den Wissenschaften zuzuwenden.

(6) Heinrich Hasse , Schopenhauer, München 1926, S. 40-44. Dort sind auch die Quellenangaben zu den hier kursiv geschriebenen Zitaten und zu anderen Anmerkungen zu finden.
Weiteres zum Verfasser > Heinrich Hasse.

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