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 Autobiografie (1/6)

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Eine der wichtigsten Quellen zu Arthur Schopenhauers Autobiografie ist der Lebenslauf, den Schopenhauer der philosophischen Fakultät der Berliner Universität im Zusammenhang mit seiner Bewerbung für eine Lehrtätigkeit vorlegte.

   Schopenhauers Lebenslauf war  als Anlage seinem Brief vom 31.12.1819 an die Universität  beigefügt. Die folgende Wiedergabe ist eine deutsche Übersetzung des lateinischen Originals.*  Da dieser Lebenslauf auf  die Zeit zwischen 1788 und 1819 beschränkt ist, hat ihn die Redaktion des Studienkreises in  einem anschließenden  Nachwort durch autobiografische Texte aus Schopenhauers späteren Schriften ergänzt.

Die deutsche Übersetzung des oben genannten Briefes ist aus einer Sammlung von Schopenhauers Briefen, die 1911 von Max Brahn herausgegeben wurde. In der Einleitung schrieb der Herausgeber, dass sich im späteren Leben Schopenhauers “dieselben Züge” gezeigt hätten, “die schon in der frühsten Jugend bei Schopenhauer vorkommen: die Liebe zur Wahrheit und die volle Ehrlichkeit, wo es sich um die Wahrheit handelt.”

Am Schluss seiner Einleitung zu der Briefsammlung  würdigte  Brahn die Bedeutung Schopenhauers mit den Worten: “Die großen Grundwerte bleiben, durch die Schopenhauer uns immer wieder ein Führer und ein Lehrer werden wird: die absolute Liebe zur Erkenntnis der Wahrheit und die Größe der Ehrlichkeit und Offenheit, wie sie uns in der Geschichte nur ganz selten entgegentritt.”** 

Nach dieser völlig zu Recht hervorgehobenen Wahrheitsliebe Schopenhauers dürften keinerlei ernsthaften Zweifel bestehen am Wahrheitsgehalt seiner Autobiografie, deren deutsche Fassung nun folgt:  


Treibe die Natur mit der Heugabel aus,
sie kommt doch immer zurück.

(Horaz, Briefe 10,24.)”

“Die Aufgabe, über meinen Lebenslauf zu berichten, bringt mir vieles mehr, dessen zu erwähnen ist, vor die Erinnerung, als bei der gleichen Arbeit anderer wohl der Fall zu sein pflegt. Es rührt dies daher, daß mir den Beruf, dem ich folge, die gelehrte Tätigkeit, der ich mich hingegeben habe, nicht wie den meisten der Zufall entgegengebracht noch die berechnende Fürsorge anderer angewiesen, sondern die eigene, freie Wahl allein zugeteilt hat, und daß mir der Weg, auf welchem ich dahin, wo ich bin, gelangte, nicht allein nicht gebahnt und geebnet, sondern behindert und versperrt gewesen, ja daß ich ihn anfangs nicht einmal kannte.

Ich stamme aus Danzig, wo ich am 22. Februar 1788 das Licht erblickte. Mein Vater war Heinrich Floris Schopenhauer, meine noch lebende, durch eine Reihe von Schriften bekannte Mutter ist eine geborene Johanna Henriette Trosiener. Wenig aber fehlte, so wäre ich Engländer geworden; denn erst da ihre Niederkunft schon nahe bevorstand, verließ meine Mutter England, um in die Heimat zurückzukehren.

Mein vortrefflicher Vater war ein wohlhabender Kaufmann und Königlich polnischer Hofrat, obwohl er nie gestattete, daß man ihn so nannte. Er war ein gestrenger heftiger Mann, aber von tadelloser Unbescholtenheit, Rechtlichkeit und unverbrüchlicher Treue, dabei in Handelsgeschäften mit vorzüglicher Einsicht begabt. Wie viel ich ihm verdanke, vermag ich kaum in Worten auszudrücken: denn wenn auch die Laufbahn, die er mir zu eröffnen beschlossen hatte, in seinen Augen freilich die beste, meinem Geiste nicht angemessen war; daß ich frühzeitig in nützliche Kenntnisse eingeweiht wurde, daß mir dann die Freiheit, die Muße und alle Hülfsmittel zur Verfolgung des Ziels, für das allein ich geboren war, zur Gelehrten-Ausbildung nicht fehlten, daß mir endlich auch später, in reiferen Jahren, ohne mein Zutun Vorteile zuteil wurden, deren die wenigsten meiner Art und Anlage sich zu erfreuen gehabt haben, nämlich freie Zeit und eine vollkommen sorgenlose Existenz, kraft deren es mir gestattet war, eine Reihe von Jahren hindurch Studien, die in Hinsicht auf Gelderwerb die unfruchtbarsten sind, Untersuchungen und Meditationen der allerschwierigsten Gattung ausschließlich nachzuhängen und zuletzt, was ich erforscht und durchdacht, durch nichts abgezogen oder gestört, niederzuschreiben -  das alles danke ich einzig jenem Manne:

Denn kein Kaiser hat uns diese Muße bereitet.

Deshalb werde ich, solange ich lebe, diese unaussprechlichen Verdienste und Wohltaten des besten Vaters immer im Herzen bewahren und dessen Gedächtnis heilig halten.

Als im Jahre 1793 der König von Preußen, des wohlregierenden allerhöchster Vater, die Stadt Danzig seiner Herrschaft unterwarf, ertrug mein Vater, dessen Herz nicht weniger warm für die Freiheit als für die Vaterstadt schlug, den Anblick des Untergangs der alten Republik nicht; wenige Stunden vor der Besetzung der Stadt durch die preußischen Truppen verließ er deshalb diese mit Weib und Kind, blieb die Nacht über in seinem Landhause und reiste am folgenden Tage in Eiltouren nach Hamburg ab. Aber nicht ohne große Vermögenseinbuße kaufte er sich allein mit den Seinigen von dem Geschicke Danzigs los; denn abgesehen von dem für den Kaufmann höchst nachteiligen Ortswechsel und der in so ungünstigem Zeitpunkt nicht ohne Schaden zu bewerkstelligenden Veräußerungen mußte er auch noch den zehnten Teil seiner gesamten Habe dem Fiskus abgeben, wogegen er dann von jeder Verbindlichkeit gegen die Stadt frei und entbunden erklärt wurde.

So ward ich schon in zarter Kindheit (ich stand damals im fünften Jahre) heimatlos; auch habe ich seitdem eine neue Heimat niemals erworben. Denn wennschon mein Vater von jener Zeit an bis zu seinem Ende seinen Wohnsitz in Hamburg hatte und daselbst eine Handlung betrieb, so wollte er doch nie unter die Zahl der Bürger aufgenommen werden, sondern wohnte dort nach dem daselbst gültigen Rechte der Ausländer als Beifasse. Über mich aber, seinen einzigen Sohn und damals alleinigen Erben, meine Schwester ist zehn Jahre nach mir geboren, hatte er beschlossen, daß ich ein tüchtiger Kaufmann und zugleich ein Mann von Welt und feinen Sitten werden sollte.

Zu diesem Zweck hielt er vor allem nötig, daß ich vollkommen Französisch lernte. Als er daher 1797 eine Vergnügungsreise nach Frankreich und England antrat, nahm er mich, der ich damals im zehnten Jahre stand und bis dahin in einem Privatinstitut in den üblichen Fächern Unterricht genossen hatte, mit sich.  Nachdem wir Paris gesehen, führte er mich nach Havre, wo er mich, damit aus mir wo möglich ein ganzer Franzose werde, bei einem Geschäftsfreunde zurückließ. Dieser, ein lieber guter sanfter Mann, hielt mich ganz wie seinen zweiten Sohn und ließ mich mit seinem eignen mir gleichalterigen Sohne gemeinsam erziehen.

So wurden wir von zu uns kommenden Privatlehrern in allen, jenem zarten Lebensalter angemessenen Kenntnissen und Fertigkeiten unterrichtet, so daß ich neben der französischen Sprache vieles andere dort lernte, auch einige Anfangsgründe im Lateinischen, diese jedoch mehr, damit davon die Rede sein könne, und überhaupt nur in der Absicht, damit ich, wenn mir einmal ein lateinisches Wort aufstieße, nicht ganz befremdet sei. In jener freundlichen, an der Seinemündung und der Meeresküste gelegenen Stadt verlebte ich so den weitaus frohesten Teil meiner Kindheit.

Nach einem mehr als zweijährigen Aufenthalt, vor Vollendung meines zwölften Jahres, fuhr ich allein zu Schiff nach Hamburg zurück. Unbändig freute sich mein guter Vater, als er mich plaudern hörte, wie wenn ich ein Franzose wäre: die Muttersprache dagegen hatte ich dermaßen verlernt, daß man sich darin mir nur mit größter Schwierigkeit verständlich machen konnte.

In Hamburg nun kam ich in eine von den Söhnen der höher- stehenden und vermögenderen Hamburger besuchte Privat-Erziehungsanstalt, deren Vorsteher Dr. phil. Runge, auch Verfasser einer pädagogischen Schrift, war. Unter der Leitung dieses vortrefflichen Mannes, sowie der anderen in dessen Anstalt tätigen Lehrer lernte ich alles gründlich, was einem Kaufmanne von Nutzen ist und dem Gebildeten wohl ansteht. Dem Lateinischen aber wurde nur eine einzige Stunde in der Woche und auch das nicht ernstlich, nur zum Schein gewidmet. Diesen Unterricht genoß ich fast vier Jahre lang.”

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Anmerkungen
*  Übersetzung aus: Arthur Schopenhauers Briefwechsel und andere Dokumente. Ausgewählt und hrsg. von Max Brahn, Leipzig  1911, S. 98-117.
** Ebd., S. XXVIII.

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