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Arthur Schopenhauer

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 Autobiografie (6/6)

“Mit hereinbrechendem Winter, der mir in meinem ländlich abgeson- derten Zufluchtsort, welcher zudem damals Militär hatte, gar zu traurig erschien, wandte ich mich wieder nach Weimar, wo ich den ganzen Winter zubrachte.

Damals aber, zum Troste in solchen Leiden, ward mir zuteil, was ich zu den erfreulichsten und glücklichsten Ereignissen meines Lebens zähle: denn jener in Wahrheit hohe Schmuck unseres Jahrhunderts und der deutschen Nation, der große Goethe, dessen Namen alle Zeiten im Munde führen werden, würdigte mich seiner Freundschaft und seines vertrauten Umgangs. Bis dahin nämlich war ich ihm bloß von Ansehen bekannt und pflegte er mich nicht anzureden; nachdem er aber in meiner Abhandlung geblättert hatte, kam er aus eignem Antriebe mir entgegen und fragte, ob ich seine Farbenlehre studieren wolle, indem er versprach, mir mit allen dazu dienenden Hülfsmitteln und Erläuterungen Beistand zu leisten, so daß dieser Gegenstand den Winter über unseren öfteren Unterhaltungen, möge ich nun seinen Sätzen Zustimmung geben oder opponieren, Stoff bieten könne.

Wenige Tage darauf schickte er mir seinen eigenen Apparat und die zur Herstellung der Farbenerscheinungen nötigen Instrumente, und später zeigte er mir selbst die schwierigeren Experimente, hocherfreut, daß mein von keinerlei vorgefaßten Meinungen geblendeter Sinn die Wahrheit seiner Lehre anerkannte, welcher freilich bis auf den heutigen Tag, aus Ursachen, deren Erörterung nicht hierher gehört, Zustimmung und schuldige Anerkennung von den meisten versagt werden.

Als der große Mann sodann den ganzen Winter hindurch mich häufiger kommen ließ, blieb die Unterhaltung keineswegs auf Fragen, welche die Farbenlehre betrafen, beschränkt, sondern unsere Gespräche wurden auf alle möglichen philosophischen Gegenstände gelenkt und spannen sich viele Stunden lang fort. Aus diesem vertrauten Umgange habe ich überaus großen, unglaublichen Nutzen gezogen.

Mit Beginn des Frühjahrs 1814, nachdem die allgemeine Ruhe hergestellt war, begab ich mich nach Dresden zur weiteren Fortsetzung meiner Studien, besonders aber zur Begründung des Systems der Philosophie, das mir damals bereits im Kopfe lag. Es gewährten mir hierzu dort vor allem die vorzügliche königliche Bibliothek, sodann die berühmte Gemäldegalerie und die Sammlungen antiker Bildwerke, in Originalen und Gipsabgüssen, endlich die vorzüglichen naturwissenschaftlichen Apparate die reichsten Hülfsmittel.

In jener reizenden Stadt lebte ich ungestört fünfthalb Jahre, ausschließlich mit vielfältigen wissenschaftlichen Forschungen beschäftigt, hauptsächlich aber mit der Lesung aller je dagewesenen Philosophen, d. h. derer, die ihre eignen Gedanken vorgetragen, nicht jener, die nur, was andere gedacht, erläutert und wieder aufgekocht haben.

Zwischen diesen Studien sann ich im Jahre 1815 eine neue Farbentheorie aus. Als zweifellos hatte ich erkannt, daß Goethe nur das Wesen und die Entstehung der sogenannten physischen Farben gefunden, dagegen keineswegs eine allgemeine Farbentheorie gegeben habe, die nach meiner Ansicht offenbar weder eine physikalische noch chemische, sondern eine rein physiologische sein mußte. Über diese meine Farbentheorie nun, die ich damals Goethe im Manuskript zusandte, verhandelte ich mit ihm, Briefe wechselnd, ein ganzes Jahr lang; ihr Beifall zu schenken, versagte der große Mann jedoch beharrlich, obwohl er mir nie auch nur den geringsten Grund dagegen eingewendet hat; nur deshalb, weil meine Theorie, wie sie der Newtonschen in allen Stücken widerstreitet, so in einigen Einzelheiten auch mit der Goetheschen nicht im Einklange steht. “Die Einsicht aber”, wie Bacon von Verulam sagt, ”ist nicht trocknen Lichts, sondern vom Willen und von den Affekten beeinflußt.”

Diese Abhandlung über die Farben gab ich im Jahre 1816 in die Öffentlichkeit, nicht zweifelnd, daß ich als der Erste erstanden sei, der Goethe zugestimmt. Übrigens bin ich fest und fester überzeugt, daß die darin entwickelte Theorie die richtige, die allein richtige sei, auch ist mir nicht bange, daß sie nicht in Bälde Anerkennung finden werde, indem ich meine Beruhigung darin finde, daß weder böswilliges Verschweigen noch hartnäckiges Ableugnen die Wahrheit zu verdrehen oder zu unterdrücken vermag. Denn um mich der Worte des Livius zu bedienen, die Wahrheit, sagt man, hat oft einen harten Stand; vernichtet werden kann sie nie.

Im Jahre 1818 endlich brachte ich mein philosophisches System, an dem ich fünf Jahre lang anhaltend gearbeitet hatte, zum Abschlusse. Dann aber, nach elfjähriger fortgesetzter wissenschaftlicher Tätigkeit, beschloß ich, mich durch Reisen zu erholen. Ich begab mich über Wien nach Italien, sah Venedig, Bologna, Florenz und kam endlich nach Rom, wo ich fast vier Monate verweilte und mich an der Betrachtung der Denkmäler des Altertums wie der neueren Kunstwerke weidete.

Ich sah Neapel, zollte Pompeji, Herkulanum, Puteoli, Baja und Cuma meine Bewunderung und kam bis Pästum, wo ich im Angesicht der uralten herrlichen, im Laufe von fünfundzwanzig Jahrhunderten nicht erschütterten Tempel der Poseidonstadt mit Ehrfurchtsschauer daran dachte, daß ich auf dem Boden stehe, den vielleicht Platons Fußsohle betreten. Darauf verweilte ich wieder fast einen Monat in Florenz, besuchte zum zweitenmal Venedig, ging dann Padua, Vicenza, Verona und Mailand zu sehen und trat endlich über den St. Gotthardberg in die Schweiz ein.

Nachdem ich so elf Monate auf Reisen zugebracht, kehrte ich im August dieses Jahres nach Dresden zurück. Nun aber ergriff mich, den bis dahin nur die Begierde zu lernen getrieben hatte, auch das Verlangen zu lehren. Es befriedigen zu dürfen, darum habe ich die hochansehnliche philosophische Fakultät der Universität Berlin angegangen.”

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