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Arthur Schopenhauer

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 Autobiografie (4/6)

Mit Ablauf des Semesters verließ ich deshalb Gotha und begab mich nach Weimar, wo der rühmlichst bekannte Passow, jetzt Professor an der Universität zu Breslau, mir im Lateinischen und bald auch im Griechischen Privatunterricht erteilte. Später beschränkte er sich aufs Griechische, während ich bei dem ausgezeichneten, in der lateinischen Redekunst wohl unübertrefflichen Weimarer Gymnasialdirektor Lenz lateinische Konversationsstunden hatte. Beiden vortrefflichen, um mich hochverdienten Männern bleibe ich zum größten Dank verpflichtet.

Von Wissensdurst getrieben war ich meinesteils nun angestrengt, ja ängstlich bestrebt, mit unermüdlicher Emsigkeit, höchstem Eifer und unverdrossener Arbeit die Schäden der vergangenen Lebenszeit zu ersetzen und durch späten Fleiß die verlorene Frucht so vieler Jahre auszugleichen. Nicht mit dem Gelde zur Anschaffung von Hülfsmitteln jeder Art, aber mit der Muße geizend, saß ich einen Tag wie den andern bis in die Mitternacht so emsig hinter meinen Büchern und Papieren, als hätte ich mich für des Leibes tägliche Nahrung und Notdurft abzuquälen. Auch wohnte ich nicht bei meiner Mutter, sondern mit Passow in demselben Hause, so daß ich den Lehrer stets bei der Hand hatte.

Weitaus am meisten beschäftigten mich die alten Sprachen; außerdem trieb ich, nur mit Hülfe von Büchern, Mathematik und Geschichte, in deren Elemente ich schon früher eingeweiht worden war. So verbrachte ich zwei Jahre in Weimar, nach deren Ablauf meine Lehrer mich für die Universität reif erklärten, und der Wahrheit gemäß darf ich, obwohl es wundernehmen mag, bekennen, daß ich damals in dritthalb Jahren allen aus der früheren Versäumnis erwachsenen Schaden wieder gutgemacht habe. Den erfreulichen Beweis davon habe ich später daraus entnommen, daß ich auf der Universität bei dargebotener Gelegenheit öfters in Erfahrung brachte, wie ich in der Kenntnis der alten Sprachen den anderen Studierenden nicht allein gleichstand, sondern die allermeisten und zuweilen sogar die Philologen übertraf. Es ist dies wenigstens teilweise daraus herzuleiten, daß ich, zum größten Teil Autodidakt, weit mehrere alte Klassiker gelesen hatte, als es die in Gymnasien Aufgewachsenen vermochten, wo alle nur zusammen in der Herde und schrittweise vorwärts kommen.

Dieses unablässige Lesen der griechischen und römischen Klassiker habe ich auch später während meiner ganzen Universitätszeit gewissenhaft fortgesetzt, indem ich ihm täglich zwei Stunden widmete. Hieraus sind mir besonders die folgenden Vorteile erwachsen: zunächst wurde ich mehr und mehr in das Altertum eingeweiht und gewann allmählich die Einsicht in dessen Vorzüglichkeit und Eigenart, die sich mir freilich am meisten erst offenbarte, als ich in diesem nun zu Ende gehenden Jahre das Glück hatte, in Italien die ehrwürdigen herrlichen Denkmäler des Altertums vor Augen zu sehen und selbst aus den geringsten Überresten des klassischen Zeitalters dessen eigentümlichen Geist zu erfassen.

Sodann wurde durch dieses andauernd fortgesetzte Lesen der alten Autoren, besonders der griechischen Philosophen, meine deutsche Schreibart, mein Stil wesentlich gefördert, verbessert und gereinigt; endlich verhinderte dieses beharrliche Lesen, daß mir die so schnell erworbene Kenntnis der alten Sprachen nicht ebenso schnell wieder verloren gegangen ist, vielmehr so tief in mir Wurzel geschlagen hat, daß sie bis heute, nachdem doch so viele und verschiedenartige Studien dazwischengetreten, nicht geschwunden ist und jüngst selbst das anhaltende Italienischsprechen, obwohl nichts für die Fähigkeit des Lateinsprechens und Schreibens Nachteiligeres gedacht werden kann, mir nicht geschadet hat.

Zur Beglaubigung dessen versichere ich in allem Ernste, daß ich dies alles hier ohne irgendeines Sterblichen Beihülfe niederschreibe und, ehe ich es nach Berlin sende, niemanden zeigen werde: indem, obwohl ich weiß, daß auch ich der Rede fehlen kann, dies, wenn es vorkäme, doch nur menschlicher Schwäche und Unvollkommenheit, nicht meiner Unwissenheit zuzuschreiben wäre. Daß ich aber solches alles vorbringe, möge einem Menschen verziehen werden, der erst in seinem neunzehnten Jahre das Wort “mensa” deklinieren lernte; denn sonst wäre dies die eitelste Großsprecherei, und zwar in unbedeutender Sache.

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