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Arthur Schopenhauer

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 Autobiografie (2/6)

“ Lange vor Ablauf dieser Zeit jedoch erfaßte mich eine starke Neigung zur Gelehrtenlaufbahn, und ich ging meinen Vater mit inständigen Bitten an, mir in dieser Beziehung den Willen zu tun und mich nicht Kaufmann werden zu lassen. Dieser aber hegte hiergegen den größten Widerwillen und ließ sich, da er nach seinem Dafürhalten einzig meinen Vorteil im Auge hatte, nicht erweichen. Da ich jedoch, durch keine Fehlbitte abgeschreckt noch ermüdet, ihm stets mit dem nämlichen Anliegen in den Ohren lag, und auch Dr. Runge mir das Zeugnis gab, daß ich andere und höhere Geistesfähigkeiten besitze, als welche der Kaufmann braucht, so wurde endlich der überaus feste Sinn meines Vaters soweit gebrochen oder doch wankend gemacht, daß er sich, obwohl widerstrebend, einzuwilligen geneigt zeigte und davon sprach, mich dem Gymnasium zu übergeben.

Da seiner väterlichen Liebe mein Wohl vor allem am Herzen lag und in seiner Ideenverbindung die Begriffe Gelehrtentum und Dürftigkeit unzertrennlich verknüpft waren, so glaubte er vor allem dafür sorgen zu müssen, daß dieser drohenden Gefahr beizeiten vorgebeugt werde. Er beschloß deshalb, mich zum Hamburger Kanonikus zu machen, und begann sich mit den dazu erforderten Bedingungen zu beschäftigen. Indem er jedoch über die, in der Tat hohe Einkaufssumme nicht sofort einig wurde, verzögerte dies die ganze wegen der Veränderung meines Lebensplans zu treffende Entscheidung.

Aus diesem Aufschube schöpfte mein Vater neue Hoffnung, mich von meinem Gedanken abzubringen. Daß er dies nicht mit Gewalt durchsetzte, davon hielt ihn die ihm angeborene Achtung vor der Freiheit jedes Menschen zurück. Aber mich mit List zu versuchen, nahm er keinen Anstand. Er wußte, daß ich sehr begierig war, die Welt zu sehen, sowie daß ich mich lebhaft sehnte, wieder einmal nach Havre und zu meinen teuren Freunden dort zu kommen. Deshalb eröffnete er mir, daß er im nächsten Frühjahre mit seiner Frau eine länger andauernde Vergnügungsreise durch einen großen Teil von Europa unternehmen werde und daß ich diese herrliche Tour, auf der ich Gelegenheit haben würde, auch Havre wiederzusehen, mitmachen könne, wenn ich ihm nur versprechen wolle, mich nachher ganz dem Kaufmannsstande zu widmen; wolle ich dagegen auf dem Vorhaben der Gelehrten-Laufbahn bestehen, so müsse ich, um Lateinisch zu lernen, in Hamburg bleiben. Die Wahl stehe bei mir.

Einer solchen Versuchung widerstand das jugendliche Herz nicht; nachdem ich mir seinem Verlangen gemäß die Sache überlegt hatte, leistete ich das Versprechen.

So verließ ich im Frühling des Jahres 1803, nachdem ich das sechzehnte Jahr angetreten hatte, mit den Eltern Hamburg. Wir sahen zuerst Holland und fuhren dann von Frankreich nach England hinüber. Nachdem wir in London einen Aufenthalt von anderthalb Monaten gemacht hatten, setzten meine Eltern die Reise in das Innere von England und nach Schottland fort, während ich bei einem in der Nähe Londons wohnenden Geistlichen zurückgelassen wurde, damit ich die englische Sprache gründlich erlerne, was ich in den drei daselbst verlebten Monaten gut zuwege brachte.

Nach der Rückkehr meiner Eltern nach London schloß ich mich ihnen wieder an, und nachdem wir nochmals anderthalb Monate daselbst zugebracht hatten, fuhren wir wieder nach Holland, von wo wir uns durch Belgien nach Paris begaben, um daselbst den größten Teil des Winters zu verweilen. Von dort besuchte ich auch Havre wieder. Darauf sahen wir Bordeaux, Montpellier, Nimes, Marseille, Toulon und die Hierischen Inseln. Nachdem wir auch Lyon besucht hatten, traten wir in die Schweiz ein. Als diese ganz durchreist war, gingen wir nach Wien, von dort nach Dresden und Berlin, endlich nach Danzig. Nachdem wir so auch die alte Heimat wiedergesehn, kehrten wir in den ersten Tagen des Jahres 1805 nach fast zweijähriger Abwesenheit nach Hamburg zurück.

Es leuchtet ein, daß mir durch diese langandauernde Reise zwei Jugendjahre, welche sonst zur Erlernung der klassischen Lehrfächer und Sprachen verwendet zu werden pflegen, in dieser Hinsicht gänzlich nutzlos verstrichen, und dennoch zweifle ich heute noch, ob nicht eine Frucht jener Reise mir zugut gekommen ist, die jenen verlorenen Vorteil vollständig ausgleicht, ja überwiegt. Denn gerade in den Jahren der erwachenden Mannbarkeit, in welchen die menschliche Seele sowohl Eindrücken jeder Art am meisten offensteht, als nach der Aufnahme und Erkenntnis der Dinge am stärksten verlangt und neugierig ist, wurde mein Geist, nicht, wie gewöhnlich geschieht, mit leeren Worten und Berichten von Dingen, von denen er noch keine richtige und sachgemäße Kenntnis haben konnte, angefüllt und auf diese Weise die ursprüngliche Schärfe des Verstandes abgestumpft und ermüdet; sondern stattdessen durch die Anschauung der Dinge genährt und wahrhaft, unterrichtet und lernte daher, was und wie die Dinge seien, früher, als er die über ihre Beschaffenheit und Veränderung fortgepflanzten Meinungen in sich aufgenommen hatte.

Besonders erfreue ich mich dessen, daß mich dieser Bildungsgang frühzeitig daran gewöhnt hat, mich nicht mit den bloßen Namen von Dingen zufrieden zu geben, sondern die Betrachtung und Untersuchung der Dinge selbst und ihre aus der Anschauung erwachsende Erkenntnis dem Wortschalle entschieden vorzuziehen, weshalb ich später nie Gefahr lief, Worte für Dinge zu nehmen.”

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