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Arthur Schopenhauer :
Rousseau und dessen Mitleidsethi
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Arthur Schopenhauer

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1788 - 1860

Jean-Jacques Rousseau >
1712 - 1778

Jean-Jacques Rousseau

“Wenn es einen Autor gibt, der  nicht nur seine Zeitgenossen extrem gegen sich und extrem für sich einnahm, sondern dem es noch immer gelingt, seine Leser herauszufordern und zutiefst zu beunruhigen, so ist dies der 1712 geborene Jean-Jacques Rousseau.”(1)

Einer derjenigen, den Rousseau für sich einnahm, war Arthur Schopenhauer, und zwar gilt das insbesondere im Hinblick auf die von Rousseau vertretene Mitleidsethik. In seiner Preisschrift über die Grundlage der Moral begründete Schopenhauer eingehend, warum das Mitleid die “wahre moralische Grundtriebfeder” sei.(2) Hierbei bezog er sich auf Rousseau, indem er darauf hinwies, dass seine Begründung der Ethik die Autorität “des größten Moralisten der ganzen neuern Zeit” für sich hätte, denn dies sei, “ohne Zweifel, J. J. Rousseau, der tiefe Kenner des menschlichen Herzens, der seine Weisheit nicht aus Büchern, sondern aus dem Leben schöpfte, und seine Lehre nicht für das Katheder, sondern für die Menschheit bestimmte, er, der Feind der Vorurtheile, der Zögling der Natur, welchem allein sie die Gabe verliehen hatte, moralisiren zu können, ohne langweilig zu seyn, weil er die Wahrheit traf und das Herz rührte”(3).

Seine Betrachtungen zu den Grundlagen der Ethik, so hob Schopenhauer hervor, befänden sich “in völliger Uebereinstimmung” mit Rousseau (4), aus dessen Schriften er dann ausführlich zitierte. Die folgenden Zitate werden hier nicht, wie in Schopenhauers Preisschrift im französischen Original, sondern nur in ihrer deutschen Übersetzung wiedergegeben. Zunächst zitierte er Rousseau aus dessen Schrift Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen und danach aus Emile oder über die Erziehung:

“Es gibt ein anderes Princip, welches Hobbes gar nicht bemerkt hat, und welches dem Menschen verliehen worden ist, um unter gewissen Umständen die Rauheit seiner Eigenliebe zu mildern, und um den Eifer, den er für sein eigenes Wohlergehen hat, zu dämpfen durch ein angeborenes Widerstreben, seinesgleichen leiden zu sehen. Ich glaube keinen Widerspruch befürchten zu müssen, wenn ich dem Menschen die einzige natürliche Tugend zuschreibe, welche der eifrigste Verächter der menschlichen Tugenden anzuerkennen gezwungen ist; Ich meine das Mitleid u. s. w. -

Mandeville hat richtig erkannt, dass die Menschen mit aller ihrer Moral nie etwas anderes gewesen wären als Scheusale, hätte nicht die Natur ihnen zur Unterstützung ihrer Vernunft das Mitleid gegeben; aber er hat nicht gesehen, daß allein aus dieser Eigenschaft alle sozialen Tugenden entspringen, welche er den Menschen absprechen will. Und in Wahrheit, was sind Großmut, Milde, Humanität anders als ein Mitleid, welches sich der Schwachen, der Schuldigen, ja der ganzen Menschheit annimmt?

    Das Wohlwollen und selbst die Freundschaft sind, recht verstanden, die Folgen eines beständigen Mitleids, welches sich auf einen besonderen Gegenstand richtet; denn zu wünschen, dass jemand nicht leide, ist doch nichts anderes, als zu wünschen, er möge glücklich sein.   - - Das Mitgefühl wird um so stärker sein, je inniger sich der Zuschauer mit dem Leidenden identifiziert. -

Es ist also ganz gewiss, daß das Mitleid ein natürliches Gefühl ist, welches in jedem Individuum die Liebe zu sich selbst mildert und dadurch zur wechselseitigen Erhaltung der ganzen Gattung beiträgt.

Das Mitleid ist es, welches im Naturzustande alle Gesetze, Sitten und Tugenden ersetzt und dabei den Vorzug hat, daß keiner versuchen wird, seiner sanften Stimme ungehorsam zu sein; das Mitleid ist es, welches jeden rohen Wilden abhalten wird, einem schwachen Kinde oder einem hilflosen Greise seine mühsam erlangte Subsistenz zu rauben, solange er selbst hoffen kann, die seinige auf anderem Wege zu finden; das Mitleid ist es, welches statt jener erhabenen Maxime der vernunftmäßigen Gerechtigkeit:

 Behandle den andern, wie du willst, daß man dich behandle,

allen Menschen jene andere, weniger vollkommene, aber vielleicht nützlichere Maxime der natürlichen Güte einflößt:

 Betreibe dein Wohlsein so, daß die andern möglichst wenig darunter leiden. 

Mit einem Worte, in diesem natürlichen Gefühl, viel mehr als in subtilen Argumenten, hat man die Ursache zu sehen für das Widerstreben, welches jeder Mensch empfindet, Böses zu tun, ganz unabhängig von Grundsätzen der Erziehung.”(5)

Anschließend zitierte Schopenhauer noch Rousseau aus dessen Schrift Emile:

“In der Tat, wie ist es möglich, daß wir uns zum Mitleid bewegen lassen, wenn nicht dadurch, daß wir uns außerhalb unserer selbst versetzen und uns mit dem Wesen, welches leidet, identifizieren, dadurch daß wir sozusagen unser Selbst aufgeben, um das seinige anzunehmen. Wir leiden dabei nur in dem Maße, wie wir glauben, daß es leidet; nicht in uns leiden wir, sondern in ihm. - - - man muss dem jungen Menschen Gegenstände vorführen, bei welchen die expansive Kraft seines Herzens sich betätigen kann, welche es ausweiten, welche es über die andern Wesen ausdehnen, welche ihn veranlassen, sich überall außerhalb seiner wiederzufinden; und hingegen sorgfältig alles vermeiden, was sein Herz verengen und zusammenziehen, was die Triebfeder des menschlichen Ich anspannen könnte, u. s. w.”(6)

Arthur Schopenhauer und Jean-Jacques Rousseau standen mit ihrer auf dem Mitleid gegründeten Ethik im deutlichen Gegensatz zu fast allen Philosophen ihrer Zeit. “Die Begründung”, schrieb Schopenhauer,  “welche ich der Ethik gegeben habe, läßt mich [...] unter den Schulphilosophen ohne Vorgänger, ja sie ist, in Beziehung auf die Lehrmeinungen dieser, paradox, indem Manche von ihnen, z. B. die Stoiker [...], Spinoza [...], Kant [...], das Mitleid geradezu verwerfen und tadeln.”(7)

Es ist daher verständlich, dass Schopenhauer, der nicht nur wegen seiner Ethik als Außenseiter unter den Philosophen galt, durchaus erfreut war, sich auf Rousseau berufen zu können und sich dementsprechend positiv über diesen äußerte. Die Meinung Schopenhauers, dass er mit seiner Ethik in “völliger Übereinstimmung” mit Rousseau sei, ist nicht unberechtigt, denn z. B. sind in deren Mitleidsethik auch die Tiere einbezogen, was in der damaligen Zeit sehr ungewöhnlich war.

Andererseits wies Schopenhauer darauf hin, dass es der “Grundzug” und der erste falsche Schritt “der ganzen Philosophie Rousseau´s” sei, davon auszugehen, dass das Menschengeschlecht ursprünglich gut gewesen und es “bloß durch die Civilisation und deren Folgen auf Abwege gerathen wäre”.(8) Auf dieser Annahme  hätte, wie Schopenhauer erklärte, Rousseau “seinen Optimismus und Humanismus” gegründet.  Hieran wird deutlich, dass Schopenhauer zwar in der Mitleidsethik, jedoch nicht  in den Grundlagen seiner Philosophie mit Rousseau übereinstimmt.

 Wahre Liebe sei Mitleid, notierte Schopenhauer in sein Hand- exemplar der 1. Auflage seines Hauptwerkes und bezog sich dabei auf Rousseau.(9) Da Schopenhauers Werk Die Welt als Wille und Vorstellung erstmals 1819 erschien, ist anzunehmen, dass er schon früh mit Rousseaus Mitleidsethik vertraut war und somit Rousseau wahrscheinlich einer der wenigen Philosophen war, die wesentliche Gedanken zu Schopenhauers  Ethik beitrugen. Insofern kann, was die Mitleidsethik betrifft, Rousseau trotz aller Unterschiede  wohl als ein Vorläufer Schopenhauers gelten.
 

Weiteres:  Schopenhauer zu den Themen
                   > Mitleid und > Mitleidsethik
 

Anmerkungen

(1) Bernhard H. F. Taureck, Jean-Jacques Rousseau,
      Reinbek 2009, S. 7.
(2) Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe,
      Werke in zehn Bänden,   hrsg. von Arthur Hübscher,
      Band VI (Die beiden Grundprobleme der Ethik),
      Zürich 1977, S. 276.
(3) Ebd., S. 285 f.
(4) Ebd., S. 285.
(5) Ebd., S. 287 f.
(6) Ebd., S. 288.
(7) Ebd., S. 285.
(8) S. hierzu und dem Folgenden:
      Arthur Schopenhauer, a. a. O., Band IV
      (Die Welt als Wille und Vorstellung II), S. 685.
(9) Arthur Schopenhauer, Der handschriftliche Nachlaß
      in fünf Bänden, hrsg. von Arthur Hübscher, Band 5,
      München 1985, S. 140 (Nr. 464).  

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