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Arthur Schopenhauer

Mitleid und Ethik

Textauszüge (Teil 2 / 4) aus:
Arthur Schopenhauer , Preisschrift über die Grundlage der Moral.
In: Arthur Schopenhauer´s sämmtliche Werke. Hrsg. von
Julius Frauenstädt, 2. Auflage, Band 4, Leipzig 1919,
S. 229-230, 264-266.

Wie ist es nun aber möglich, daß ein Leiden, welches nicht meines ist, nıcht mich trifft, doch eben so unmittelbar, wie sonst nur mein eigenes, Motiv für mich werden, mich zum Handeln bewegen soll? Wie gesagt, nur dadurch, daß ich es, obgleich mir nur als ein Aeußeres, bloß vermittelst der äußern Anschauung oder Kunde gegeben, dennoch mitempfinde,es als meines fühle,und doch nicht in mir, sondern in einem Andern [ ... ].

Dies aber setzt voraus, daß ich mich mit dem Andern gewisser- maaßen identificirt habe, und folglich die Schranke zwischen Ich und Nicht-Ich, für den Augenblick, aufgehoben sei: nur dann wird die Angelegenheit des Andern, sein Bedürfniß, seine Noth, sein Leiden, unmittelbar zum meinigen: dann erblicke ich ihn nicht mehr, wie ihn doch die empirische Anschauung giebt, als ein mir Fremdes, mir Gleichgültiges, von mir gänzlich Verschiedenes; sondern in ihm leide ich mit, trotz dem, daß seine Haut meine Nerven nicht einschließt. Nur dadurch kann sein Wehe, seine Noth, Motiv für mich werden: außerdem
kann es durchaus nur meine eigene.

Dieser Vorgang ist, ich wiederhole es, mysteriös: denn es ist etwas, wovon die Vernunft keine unmittelbare Rechenschaft geben kann, und dessen Gründe auf dem Wege der Erfahrung nicht auszumitteln sind. Und doch ist er alltäglich. Jeder hat ihn oft an sich selbst erlebt, sogar dem Hartherzigsten und Selbstsüchtigsten ist er nicht fremd geblieben.

Er tritt täglich ein, vor unsern Augen, im Einzelnen, im Kleinen, überall wo, auf unmittelbaren Antrieb, ohne viel Ueberlegung, ein Mensch dem Andern hilft und beispringt, ja, bisweilen selbst sein Leben für Einen, den er zum ersten Male sieht, in die augenscheinlichste Gefahr setzt, ohne mehr dabei zu denken, als eben daß er die große Noth und Gefahr des Andern sieht.

Er tritt im Großen ein, wenn, nach langer Ueberlegung und schwerer Debatte, die hochherzige Brittische Nation 20 Millionen Pfund Sterling hingiebt, um den Negersklaven in ihren Kolonien die Freiheit zu erkaufen; unter dem Beifallsjubel einer ganzen Welt. Wer diese schöne Handlung im großen Stil, dem Mitleid als Triebfeder absprechen wollte, um sie dem Christenthum zuzuschreiben, bedenke, daß im ganzen Neuen Testament kein Wort gegen die Sklaverei gesagt ist; so allgemein auch damals die Sache war; und daß vielmehr, noch 1860, in Nord-Amerika, bei Debatten über die Sklaverei, Einer sich darauf berufen hat, daß Abraham und Jakob auch Sklaven gehalten haben. [ ... ]

Den festen Boden der Erfahrung, welcher bis hieher alle unsere Schritte getragen hat, sollen wir also jetzt verlassen, um in dem, wohin keine Erfahrung auch nur möglicherweise reichen kann, die letzte theoretische Befriedigung zu suchen, glücklich, wenn uns auch nur ein Fingerzeig, ein flüchtiger Durchblick zu Theil wird, bei welchem wir uns einigermaaßen beruhigen können.

Hingegen was uns nicht verlassen soll, ist die bisherige Redlichkeit des Verfahrens: wir werden nicht, nach der Weise der sogenannten Nach-Kantischen Philosophie, uns in Träumereien gefallen, Mährchen auftischen, durch Worte zu imponiren und dem Leser Sand in die Augen zu streuen suchen; sondern ein Weniges, redlich dargeboten, ist unsere Verheißung.

Das, was bis hieher Erklärungsgrund war, wird jetzt selbst unser Problem, nämlich jenes jedem Menschen angeborene und unvertilgbare, natürliche Mitleid, welches sich uns als die alleinige Quelle nicht- egoistischer Handlungen ergeben hat: diesen aber ausschließlidı kommt moralischer Werth zu.

Die Weise vieler moderner Philosophen, welche die Begriffe Gut und Böse als einfache, d.h. keiner Erklärung bedürftige, noch fähige, Begriffe behandeln, und dann meistens sehr geheimnißvoll und andächtig von einer “Idee des Guten” reden, aus welcher sie die Stütze ihrer Ethik, oder wenigstens einen Deckmantel ihrer Dürftigkeit machen [...], nöthigt mich, hier die Erklärung einzuschalten, daß diese Begriffe nichts weniger als einfach, geschweige a priori gegeben, sondern Ausdrücke einer Relation und aus der alltäglichsten Erfahrung geschöpft sind. Alles, was den Bestrebungen irgend eines individuellen Willens gemäß ist, heißt, in Beziehung auf diesen, gut: - gutes Essen, gute Wege, gute Vorbedeutung; - das Gegentheil schlecht, an belebten Wesen böse.

Ein Mensch, der, vermöge seines Charakters, den Bestrebungen Anderer nicht gern hinderlich, vielmehr, so weit er füglich kann, günstig und förderlich ist, der also Andere nicht verletzt, vielmehr ihnen, wo er kann, Hülfe und Beistand leistet, wird von ihnen, in eben der selben Rücksicht, ein guter Mensch genannt, mithin der Begriff Gut, von dem selben relativen, empirischen und im passiven Subjekt gelegenen Gesichtspunkte aus, auf ihn angewandt.

Untersuchen wir nun aber den Charakter eines solchen Menschen nicht bloß in Hinsicht auf Andere, sondern an sich selbst; so wissen wir aus dem Vorhergehenden, daß eine ganz unmittelbare Theilnahme am Wohl und Wehe Anderer, als deren Quelle wir das Mitleid erkannt haben, es ist, aus welcher die Tugenden der Gerechtigkeit und Menschenliebe in ihm hervorgehen. Gehen wir aber auf das Wesentliche eines solchen Charakters zurück; so finden wir es unleugbar darin, daß er weniger als die Uebrigen einen Unterschied zwischen sich und Andern macht.

Dieser Unterschied ist in den Augen des boshaften Charakters so groß, daß ihm fremdes Leiden unmittelbar Genuß ist, den er deshalb, ohne weitern eigenen Vortheil, ja, selbst diesem entgegen, sucht. Der selbe Unterschied ist in den Augen des Egoisten noch groß genug, damit er, um einen kleinen Vortheil für sich zu erlangen, großen Schaden Anderer als Mittel gebrauche. Diesen Beiden ist also zwischen dem Ich, welches sich auf ihre eigene Person beschränkt, und dem Nicht-Ich, welches die übrige Welt begreift, eine weite Kluft, ein mächtiger Unterschied: Pereat mundus, dum ego salvus sim [Mag die Welt untergehen, wenn nur ich gerettet werde!], ist ihre Maxime.

Dem guten Menschen hingegen ist dieser Unterschied keineswegs so groß, ja, in den Handlungen des Edelmuths erscheint er als aufgehoben, indem hier das fremde Wohl auf Kosten des eigenen befördert, also das fremde Ich dem eigenen gleichgesetzt wird: und wo viele Andere zu retten sind, wird das eigene Ich ihnen gänzlich zum Opfer gebracht, indem der Einzelne für Viele sein Leben hingiebt.

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