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 Moralphilosopie und Metaphysik

Moral predigen ist leicht, Moral begründen schwer. Diesen Satz stellte Arthur Schopenhauer seiner Preisschrift über die Grundlage der Moral voran. Hiermit zeigte er, worauf es ihm in seiner Schrift ankam, nämlich nicht wie in den Religionen  auf  das Sollen im Rahmen von göttlich verordneten Ge- und Verboten, sondern auf eine philosophische Begründung der Ethik. Es geht hier also nicht um Theologie, sondern um das, was im Wörterbuch der philosophischen Begriffe als Moralphilosophie bezeichnet wird. Wie Heinrich Hasse in seinem sehr empfehlenswerten Buch Schopenhauer  darlegte, beruht die Moralphilosophie Schopenhauers auf dessen Metaphysik des Willens. Hierzu schrieb Hasse, und zwar unter der Überschrift Aufgabe und Grundprobleme der Ethik :

“ Der vierte Hauptteil der Lehre Schopenhauers führt zum Gipfel des Systems. Er ist es, der zugleich Einblick in die tiefsten Tiefen dieser Philosophie gewährt. Als der ernsteste von allen wird er von Schopenhauer gekennzeichnet; denn er betrifft die Handlungen des Menschen, einen Gegenstand, der jeden unmittelbar angeht.

Als Ethik oder Moralphilosophie ist dieser Teil des philosophischen Systems ebenso theoretisch wie jeder andere. Er schreibt nicht etwa vor, was getan, was unterlassen werden soll, erhebt also nicht den Anspruch, das Handeln des Menschen zu leiten, sondern begnügt sich damit, wie alle übrigen philosophischen Disziplinen, das Gegebene zu erklären und zu deuten , um zu einem tieferen Verständnis desselben zu gelangen.

Wie in der Erkenntnistheorie das Erkennen, in der Naturphilosophie die Natur, in der Ästhetik die Kunst, ebenso wird in der Ethik das Handeln des Menschen einer philosophischen Betrachtung unterzogen.

Als philosophische hat diese Betrachtung sich der aller Philosophie eigenen Allgemeinheit zu befleißigen und zugleich ihre Untersuchung nach Möglichkeit in die Tiefe zu führen. Sie untersucht die Grundtypen und Grundgesetze menschlichen Handelns überhaupt, um durch diese Untersuchung eine Deutung und Erklärung derselben ihrem innersten Wesen und Gehalt nach zu erbringen.

Zugleich aber hat diese Betrachtung unter strenger Innehaltung der Grenzen menschlicher Erkenntnis zu erfolgen. Damit ist jede Gestalt ethischer Lehre ausgeschlossen, welche beansprucht, durch allgemeine Vorschriften das menschliche Handeln zu regeln.

Die imperativische Form der Ethik mit ihrem Begriff des Sollens gilt allein in der Theologie und verliert außerhalb derselben alle Bedeutung, ja allen Sinn. Sie ist gebunden an die Voraussetzung der Abhängigkeit des Menschen von einem anderen, ihm gebietenden und Belohnung oder Strafe ankündigenden Willen und von dieser Voraussetzung in keiner Weise zu trennen.

Wenn gar die Kantische Ethik von einem absoluten, d. h. unbedingten Sollen handelt, ohne sich dabei auf solche Voraussetzung zu stützen, so ist der Begriff des Sollens sinnleer, seine Absolutheit aber eine contradictio in adjecto [Widerspruch im Beiwort, z. B. hölzernes Eisen], da jedes Sollen als Bedingung  das Vorhandensein eines anderweitigen Wollens voraussetzt, also niemals als unbedingt gedacht werden kann.

Hatte in den christlichen Jahrhunderten die philosophische Ethik ihre Form unbewußt von der theologischen genommen und auch ihrerseits eine Theorie des Sollens entworfen, so stellt diese sich der gereiften Einsicht als eine Umdeutung der theologischen Morallehre dar, welche, losgelöst von den theologischen Voraussetzungen, in sich selbst zusammenbricht.

Um so wichtiger ist die Aufgabe, dem menschlichen Handeln jene Deutung und Erklärung angedeihen zu lassen, welche die philosophische Ethik demselben bisher schuldig geblieben ist.

Wie die Metaphysik der Natur auf empirischer Basis zu ruhen hat, so gilt das Gleiche von der Metaphysik der Sitten. Aber die Ergebnisse der ersteren müssen für die letztere von größter Bedeutung sein.

Alles Handeln des Menschen fließt aus seinem Wollen. Die Einsicht, daß dieses Wollen den Kern und Wesenscharakter des Menschen ausmacht, hatte den Weg zur Enträtselung des Dinges an sich geöffnet und in der Naturphilosophie zu Aufschlüssen von größter Tragweite geführt. Ebendasselbe, was den Kern des Menschen ausmacht, bildet letzten Endes den metaphysischen Kern der Welt.

In der Welt als Vorstellung ist dem Willen sein Spiegel aufgegangen, in welchem er sich selbst mit zunehmenden Graden der Deutlichkeit und Vollständigkeit erkennt. Er gelangt in wachsendem Maße zur Klarheit über sein Wollen und über das, was es ist, das er will.

Während der Wille an sich selbst betrachtet, ein blinder, erkenntnisloser, unaufhaltsamer Drang, auf den untersten Stufen seiner Objektivation in dumpfem, bewußtlosem Streben begriffen ist, tritt mit dem Bewußtsein die Welt als Vorstellung hinzu, welche sich auf jeder Stufe höherer Objektivation mit gesteigerter Deutlichkeit darstellt, bis zuletzt, im vernunftbegabten Menschen, der ursprünglich zum Dienste des Willens bestimmte Intellekt sich von diesem freimacht und dem Ganzen der Welt betrachtend gegenübertritt, so daß er dem Willen das getreue Spiegelbild seiner selbst überreicht.

Dieses Spiegelbild läßt den Willen in seinem Grundcharakter und in den typischen Möglichkeiten seines Verhaltens derartig erscheinen, daß auf solcher Basis ein vertieftes Verständnis der Verschiedenartigkeit der Grundformen menschlichen Handelns und ihres sittlichen Wertes möglich wird.

Nichts anderes aber hat die philosophische Ethik zu leisten. Sie zeigt denselben Willen, welchen die Metaphysik als das Ding an sich enthüllt, dessen bildliche Anschauung als Idee in Gestalt des Schönen und Erhabenen die Ästhetik gelehrt hatte, wie er sich im Handeln des Menschen offenbart.

Der gleiche Grundgedanke kehrt als Herz des Systems unter neuen Gesichtspunkten wieder und bezeugt durch seine Wiederkehr aufs neue dessen organische Einheitlichkeit.

Die philosophische Betrachtung des menschlichen Wollens und Handelns stößt auf die unleugbare Tatsache des moralischen Bewußtseins. Kein Gebot, kein Befehl, kein Sollen ist in dieser Tatsache anzutreffen, wohl aber das Faktum einer eigenartigen Billigung unserer selbst nach gewissen Handlungen und einer ebenso eigenartigen Mißbilligung unserer selbst nach gewissen andersartigen. Und entsprechend wie es Handlungen gibt, welche Zufriedenheit bzw. Unzufriedenheit mit uns selbst hervorrufen, pflegen derartige Handlungen den Beifall und die Hochachtung unbeteiligter Zeugen zu erwecken oder aber Verachtung und Mißfallen derselben zu erregen.

Das Auffallende und Merkwürdige der Erscheinungen des moralischen Bewußtseins besteht darin, daß Billigung und Hochachtung sich nicht auf solche Handlungsweisen zu erstrecken pflegen, in welchen das Individuum, dem Gebote der Natur folgend, rücksichtslos seinen eigenen Genuß und Vorteil sucht und diesem Streben das Wohl Anderer zum Opfer bringt, sondern vielmehr gerade auf solche, in welchen der Mensch seinem natürlichen Streben nach eigenem Nutzen und Vorteil zugunsten Anderer Schranken setzt oder gar völlig entsagt.

Zugleich aber fühlen wir uns für unsere Handlungen verantwortlich vermöge der unerschütterlichen Gewißheit, daß wir selbst ihre Urheber sind. Diese Sachlage umschließt den Kern der ethischen Bedeutsamkeit des Handelns. Aus den Zusammenhängen der Erfahrung heraus läßt sie sich weder verstehen noch deuten. Denn wir sehen dabei eine intensive Genugtuung und Zufriedenheit über eine Art von Handlungen eintreten, welche, empirisch betrachtet, unserem individuellen Wohl durchaus widerspricht.

Damit eröffnet sich ein Kreis von Fragen, deren Beantwortung die philosophische Ethik unternimmt. Diese hat, wie letzten Endes alle Philosophie, nichts anderes zu leisten, als das uns intuitiv Bewußte zur deutlichen Erkenntnis in abstrakten Begriffen zu erheben. Indem nun aber der Wille, aus welchem alle menschlichen Handlungen hervorgehen, als metaphysische Wurzel unseres wie alles Seins erkannt ist, hat auch die Ethik eine Grundlage gewonnen, welche die ewige, d. h. metaphysische Bedeutsamkeit des menschlichen Wollens und Handelns begreiflich macht.” (1)

Da, wie Arthur Schopenhauer besonders in seiner Preisschrift über die Grundlage der Moral hervorhob, alle Ethik nur auf Mitleid beruht, ist seine Moralphilosophie eine metaphysisch begründete Mitleidsethik. Sie gehört zum Kern der Schopenhauerschen Willensmetaphysik und ist somit  nach den oben zitierten Worten Hasses in den “tiefsten Tiefen” der Philosophie Arthur Schopenhauers verankert.

Aus Schopenhauers Willensmetaphysik ergibt sich für seine Moralphilosophie, dass sie in ihre Mitleidsethik nicht nur die Menschen, sondern alles Leben, also auch die Tiere, einbezieht. Dazu Hasse: “Sind sie [die Tiere] doch, nicht anders als die Menschen, Manifestationen des einen und selbigen Urwillens, der sie nur in der Sphäre der Erscheinungen von getrennt zeigt.”(2)  So wird gerade im Verhältnis von Mensch und Tier besonders deutlich, wie fundamental sich Schopenhauers Moralphilosophie von den im Abendland vorherrschenden abrahamitischen  Religionen (Judentum, Christentum, Islam) unterscheidet.

Völlig im Gegensatz zu den eben genannten Religionen bezieht sich Schopenhauers Moralphilosophie auch auf einen Bereich der Ethik, der - was auch Schopenhauers Verdienst ist - zunehmend an Bedeutung gewinnt, nämlich die Tierethik. Dementsprechend trifft auf sie die von Hasse  besonders hervorgehobene Feststellung zu: “ Das Fundament der Moral ist metaphysischer Natur.”(3)

Zur Erläuterung dieser für das Verständnis der auch die Tierethik einschließenden Moralphilosophie Schopenhauers hochbedeutsamen metaphysischen Zusammenhänge schrieb Heinrich Hasse: “Der Wille als das An-Sich jeder Erscheinung” sei “selber von den Formen der Vielheit frei” und umfasse “in unteilbarer Einheit alle Wesen. [...] Dieses metaphysische Einheitsbewußtsein, erwachsen aus dem intuitiven Durchschauen des principii individuationis, zeigt uns alle Wesen als identisch mit unserem Ich. Es findet seinen klassischen Ausdruck in der Formel des Veda Tat twam asi! (Dieses bist du!) Wer diese Worte aus tiefer, fester Überzeugung, angesichts alles Lebendigen, mit welcher er in Berührung kommt sich selbst gegenüber aussprechen kann, ist damit aller Tugend und Seligkeit gewiß und auf dem geraden Wege zur Erlösung.” (4)


Weiteres

> Tierethik - Was ist das? (Blogbeitrag)

> Tierethik und Schopenhauers Philosophie (Blogbeitrag)

> Das Tat-twam-asi des Veda (Upanishaden)

> Gleichnisse  zum Tat-twam-asi

> Metaphysik - jenseits der Physik

> Der metaphysische Wille
 

Anmerkungen
(1) Heinrich Hasse , Schopenhauer, München 1926, S. 297  ff.
S. dazu auch > Heinrich Hasse : Arthur Schopenhauer.
(2) Ebd., S. 361.
(3) Ebd., S. 358.
(4) Ebd., S. 359.
Quelle für die beiden zuletzt zitierten Sätze ist der erste Band  von Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung. Vgl. Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden, Zürich 1977 (Zürcher Ausgabe), Band II,  S. 464.

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