Übersicht

Studienkreis

Arthur Schopenhauer

Redaktion

Arthur Schopenhauer :  Intuition als Quelle der Weisheit

Erkenntnis und Weisheit sind nicht nur das Ergebnis langer Überlegung, sondern auch - vielleicht sogar noch mehr - von Intuition. Dementsprechend hat Arthur Schopenhauer, und zwar wohl aufgrund eigener Erfahrung, in seiner Philosophie auf die besondere Bedeutung der Intuition hingewiesen.

Intuition , so erklärt das Philosophische Wörterbuch, sei “eingebungsartiges  geistiges Schauen”, “nicht durch verstandesmäßige Überlegung (Reflexion) gewonnene Einsicht, unmittelbares Erleben der Wirklichkeit, eine aus dem inneren Menschen  sich entwickelnde Offenbarung (Goethe)”.*

Für Schopenhauer war die Intuition eine Quelle der Weisheit, denn “die eigentliche Weisheit ist etwas Intuitives, nicht etwas Abstraktes”. Zur Bedeutung der intuitiven Erkenntnis im praktischen Leben schrieb Schopenhauer:

“ Im Praktischen vermag die intuitive Erkenntniß des Verstandes unser Thun und Benehmen unmittelbar zu leiten, während die abstrakte der Vernunft es nur unter Vermittelung des Gedächtnisses kann. Hieraus entspringt der Vorzug der intuitiven Erkenntniß für alle die Fälle, die keine Zeit zur Ueberlegung gestatten, also für den täglichen Verkehr [...].

Nur wer das Wesen der Menschen, wie sie in der Regel sind, intuitiv erkannt hat und eben so die Individualität des gegenwärtigen Einzelnen auffaßt, wird diesen mit Sicherheit und richtig zu behandeln verstehen.

Ein Anderer mag alle dreihundert Klugheitsregeln des Gracian auswendig wissen; dies wird ihn nicht vor Balourdisen [Tölpeleien] und Mißgriffen schützen, wenn jene intuitive Erkenntniß ihm abgeht. Denn alle abstrakte Erkenntniß giebt zuvörderst bloß allgemeine Grundsätze und Regeln; aber der einzelne Fall ist fast nie genau nach der Regel zugeschnitten: sodann soll diese nun erst das Gedächtniß zu rechter Zeit vergegenwärtigen; was selten pünktlich geschieht: dann soll aus dem vorliegenden Fall die propositio minor [Hintersatz] gebildet und endlich die Konklusion [Folgerung daraus] gezogen werden.

Ehe das Alles geschehen, wird die Gelegenheit uns meistens schon das kahle Hinterhaupt zugekehrt haben, und dann dienen jene trefflichen Grundsätze und Regeln höchstens, uns hinterher die Größe des begangenen Fehlers ermessen zu lassen.

Freilich wird hieraus, mittelst Zeit, Erfahrung und Uebung, die Weltklugheit langsam erwachsen; weshalb, in Verbindung mit diesen, die Regeln in abstracto [rein begrifflich, ohne Rücksicht auf die  Wirklichkeit] allerdings fruchtbar werden können.

Hingegen die intuitive Erkenntniß, welche stets nur das Einzelne auffaßt, steht in unmittelbarer Beziehung zum gegenwärtigen Fall: Regel, Fall und Anwendung ist für sie Eins, und diesem folgt das Handeln auf den Fuß.

Hieraus erklärt sich, warum, im wirklichen Leben, der Gelehrte, dessen Vorzug im Reichthum abstrakter Erkenntnisse  liegt, so sehr zurücksteht gegen den Weltmann, dessen Vorzug in der vollkommenen intuitiven Erkenntniß besteht, die ihm ursprüngliche Anlage verliehen und reiche Erfahrung ausgebildet hat.

Immer zeigt sich zwischen beiden Erkenntnißweisen [nämlich abstrakt oder intuitiv] das Verhältniß des Papiergeldes zum baaren: wie jedoch für manche Fälle und Angelegenheiten jenes diesem vorzuziehen ist; so giebt es auch Dinge und Lagen, für welche die abstrakte Erkenntniß brauchbarer ist, als die intuitive.

Wenn es nämlich ein Begriff ist, der, bei einer Angelegenheit, unser Thun leitet; so hat er den Vorzug, ein Mal gefaßt, unveränderlich zu seyn; daher wir, unter seiner Leitung, mit vollkommener Sicherheit und Festigkeit zu Werke gehen.

Allein diese Sicherheit, die der Begriff auf der subjektiven Seite verleiht, wird aufgewogen durch die auf der objektiven Seite ihn begleitende Unsicherheit: nämlich der ganze Begriff kann falsch und grundlos seyn, oder auch das zu behandelnde Objekt nicht unter ihn gehören, indem es gar nicht, oder doch nicht ganz,seiner Art  wäre.

Werden wir nun, im einzelnen Fall, so etwas plötzlich inne; so sind wir aus der Fassung gebracht: werden wir es nicht inne; so lehrt es der Erfolg. Daher sagt Vauvenargues: [...Niemand ist mehr in Gefahr, Fehler zu begehen, als der, welcher nur nach verstandesmäßiger Überlegung handelt]. -

Ist es hingegen unmittelbar die Anschauung der zu behandelnden Objekte und ihrer Verhältnisse, die unser Thun leitet; so schwanken wir leicht bei jedem Schritt: denn die Anschauung ist durchweg modifikabel [wandelbar, änderbar], ist zweideutig, hat unerschöpfliche Einzelheiten in  sich, und zeigt viele Seiten nach einander: wir handeln daher ohne volle Zuversicht.

Allein die subjektive Unsicherheit wird durch die objektive Sicherheit kompensirt: denn  hier steht kein Begriff zwischen dem Objekt und uns, wir verlieren dieses nicht aus dem Auge: wenn wir daher nur  richtig sehen, was wir vor uns haben und was wir thun; so werden wir das Rechte treffen. -

Vollkommen sicher ist  demnach unser Thun nur dann, wenn es von einem Begriffe geleitet wird, dessen richtiger Grund, Vollständigkeit und Anwendbarkeit auf den vorliegenden Fall völlig gewiß ist. Das Handeln nach Begriffen kann in Pedanterie, das nach dem anschaulichen Eindruck in Leichtfertigkeit und Thorheit übergehen.” **

Im Anschluss an die obige Erklärung, in der Schopenhauer die Vor- und Nachteile der intuitiven im Vergleich zur abstrakten Erkenntnis darlegte, hob er hervor, dass die Anschauung “nicht nur die Quelle aller Erkenntnis” sei, “sondern sie selbst ist die Erkenntnis”. Aus ihr erwächst die Weisheit, denn wie meinte Schopenhauer:

“Die Weisheit, die wahre Lebensansicht, der richtige Blick und das treffende Urtheil gehn hervor aus der Art, wie der Mensch die anschauliche Welt auffaßt; nicht aber aus seinem bloßen Wissen, d. h. nicht aus abstrakten Begriffen”.** So ist dann, wie Arthur Schopenhauer überzeugend darlegte, auf dem Wege zur Erkenntnis und Weisheit die verstandesmäßge Überlegung zwar bedeutsam, die  Intuition jedoch ist hierbei nicht nur wichtig, sondern unentbehrlich.


Anmerkungen
* Philosophisches Wörterbuch, begr. von Heinrich Schmidt, 21. Aufl., neu bearb. von Georgi Schischkoff, Stuttgart 1978 (Stichwort: Intuition), S. 322.
** Alle Schopenhauer-Zitate sind aus: Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden, Zürich 1977 (Zürcher Ausgabe), Band III: Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 90-93.

Übersicht

Studienkreis

Redaktion