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Arthur Schopenhauer

 über eine

paradoxe  Grundwahrheit

Eine paradoxe Grundwahrheit war für Arthur Schopenhauer der Kern seiner Philosophie, insbesondere deren Metaphysik.(1)

Unter Metaphysik verstand Schopenhauer “jede angebliche Erkenntnis, welche über die Möglichkeit der Erfahrung, also über die Natur, oder  die gegebene Erscheinung der Dinge, hinausgeht, um Aufschluß zu ertheilen über Das, [...] was hinter der Natur steckt.”(2) Hierbei ist für das Verständnis der im Kern seiner  Philosophie enthaltenen Metaphysik und seiner so genannten Grundwahrheit Schopenhauers Schrift Ueber den Willen in der Natur von besonderer Bedeutung. Diese Schrift, so hob er hervor, könne er “seinen Lesern nicht genug empfehlen”, weil “in ihr findet man deutlicher als irgendwo den eigentlichen Brennpunkt meiner Lehre dargelegt”.(3) 

In der Einleitung zur obigen Schrift gab Schopenhauer eine kurze und sehr gute Zusammenfassung dessen, worin der Kern seiner Philosophie besteht: 

“Kern und Hauptpunkt meiner Lehre, die eigentliche Metaphysik derselben, also jene paradoxe Grundwahrheit [ist], daß Das, was Kant als das Ding an sich der bloßen Erscheinung, von mir entschiedener Vorstellung genannt, entgegensetzte und für schlechthin unerkennbar hielt, daß, sage ich, dieses Ding an sich, dieses Substrat aller Erscheinungen, mithin der ganzen Natur, nichts Anderes ist, als jenes uns unmittelbar Bekannte und sehr genau Vertraute, was wir im Innern unsers eigenen Selbst als Willen finden; daß demnach dieser Wille, weit davon entfernt, wie alle bisherigen Philosophen annahmen, von der Erkenntniß unzertrennlich und sogar ein bloßes Resultat derselben zu seyn, von dieser, die ganz sekundär und spätern Ursprungs ist, grundverschieden und völlig unabhängig ist, folglich auch ohne sie bestehn und sich äußern kann, welches in der gesammten Natur, von der thierischen abwärts, wirklich der Fall ist; ja, daß dieser Wille, als das alleinige Ding an sich, das allein wahrhaft Reale, allein Ursprüngliche und Metaphysische, in einer Welt, wo alles Uebrige nur Erscheinung, d. h. bloße Vorstellung, ist, jedem Dinge, was immer es auch seyn mag, die Kraft verleiht, vermöge deren es daseyn und wirken kann; daß demnach nicht allein die willkürlichen Aktionen thierischer Wesen, sondern auch das organische Getriebe ihres belebten Leibes, sogar die Gestalt und Beschaffenheit desselben, ferner auch die Vegetation der Pflanzen, und endlich selbst im unorganischen Reiche die Krystallisation und überhaupt jede ursprüngliche Kraft, die sich in physischen und chemischen Erscheinungen manifestirt, ja, die Schwere selbst, - an sich und außer der Erscheinung, welches bloß heißt außer unserm Kopf und seiner Vorstellung, geradezu identisch sind mit Dem, was wir in uns selbst als Wille finden, von welchem Willen wir die unmittelbarste und intimste Kenntniß haben, die überhaupt möglich ist; daß ferner die einzelnen Aeußerungen dieses Willens in Bewegung gesetzt werden bei erkennenden, d. h. thierischen Wesen durch Motive, aber nicht minder im organischen Leben des Thieres und der Pflanze durch Reize, bei Unorganischen endlich durch bloße Ursachen im engsten Sinne des Worts; welche Verschiedenheit bloß die Erscheinung betrifft; daß hingegen die Erkenntniß und ihr Substrat, der Intellekt, ein vom Willen gänzlich verschiedenes, bloß sekundäres, nur die höhern Stufen der Objektivation des Willens begleitendes Phänomen sei, ihm selbst unwesentlich, von seiner Erscheinung im thierischen Organismus abhängig, daher physisch, nicht metaphysisch, wie er selbst; daß folglich nie von Abwesenheit der Erkenntniß geschlossen werden kann auf Abwesenheit des Willens; vielmehr dieser sich auch in allen Erscheinungen der erkenntnißlosen,sowohl der vegetabilischen, als der unorganischen Natur nachweisen läßt; also nicht, wie man bisher ohne Ausnahme annahm, Wille durch Erkenntniß bedingt sei; wiewohl Erkenntniß durch Wille.”(4)

Schopenhauer nannte, indem er sich auf seine obige Abhandlung bezog, diese Erweiterung der Kantschen Philosophie “den eigenthümlichsten und wichtigsten Schritt meiner Philosophie, nämlich den von Kant als unmöglich aufgegebenen Uebergang von der Erscheinung zum Dinge an sich”.(5) Dementsprechend verstand Schopenhauer sich in philosophischer Hinsicht mit seiner geradezu revolutionären metaphysischen Grundwahrheit als Vollender Kants. Hierzu gehört auch seine Erkenntnis, dass  der metaphysische Wille sich selbst frei verneinen kann, wodurch er letztlich als die eigentliche Ursache allen Leides fortfällt. In diesem “Schweigen des Willens” liegt der Erlösungsgedanke der Metaphysik Schopenhauers. So war die oben dargelegte Erweiterung der Kantschen Lehre der entscheidende Schritt, durch den Schopenhauers Philosophie in ihrem Kern zu dem wurde, was den von Schopenhauer hoch geschätzten Erlösungslehren des Buddha  und der altindischen Upanishaden nahe kommt.

 

Anmerkungen

(1) S. Anm. 4.
Zum Begriff
paradoxe Grundwahrheit : Das Wörterbuch der philosophischen Begriffe (hrsg. von Johannes Hoffmeister, 2. Aufl., Hamburg 1955, S. 450) definiert paradox als “wider die gewöhnliche Meinung gehend, unerwartet, unglaublich, sonderbar”. In diesem Sinne ist wohl die paradoxe Grundwahrheit von Schopenhauers Philosophie aufzufassen.
(2) Arthur Schopenhauer ,
Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Band III: Die Welt als Wille und Vorstellung II/1 (Kap. 17), Zürich 1977, S. 191.
(3) Arthur Schopenhauer , a. a. O., Band IX:
Parerga und Paralipomena II /1, § 71, S. 115.
(4) Arthur Schopenhauer , a. a. O., Band V:
Ueber den Willen in der Natur,  S. 202 f..
(5) Arthur Schopenhauer , a. a. O., Band III:
Die Welt als Wille und Vorstellung II/1, Kap. 18, S. 223.

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