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Arthur Schopenhauer

- dargestellt in Auszügen aus seinen Werken

von Julius Frauenstädt

Anschauung und Wahrheit

So lange wir uns rein anschauend verhalten, ist Alles klar, fest und gewiß. Da giebt es weder Fragen, noch Zweifeln, noch Irren: man will nicht weiter, kann nicht weiter, hat Ruhe im Anschauen, Befriedigung in der Gegenwart. Die Anschauung ist sich selber genug; daher was rein aus ihr entsprungen und ihr treu geblieben ist, wie das ächte Kunstwerk, niemals falsch seyn, noch durch irgend eine Zeit widerlegt werden kann: denn es giebt keine Meinung, sondern die Sache selbst. Aber mit der abstrakten Erkenntniß, mit der Vernunft, ist im Theoretischen der Zweifel und der lrrthum, im Praktischen die Sorge und die Reue eingetreten. Wenn in der anschaulichen Vorstellung der Schein auf Augenblicke die Wirklichkeit entstellt, so kann in der abstrakten der Irrthum Jahrtausende herrschen, auf ganze Völker sein eisernes Joch werfen, die edelsten Regungen der Menschheit ersticken und selbst Den, welchen zu täuschen er nicht vermag, durch seine Sklaven, seine Getäuschten, in Fesseln legen lassen. Er ist der Feind, gegen welchen die weisesten Geister aller Zeiten den ungleichen Kampf unterhielten, und nur was sie ihm abgewannen, ist Eigenthum der Menschheit geworden. Obwohl oft gesagt worden, daß man der Wahrheit nachspüren soll, auch wo kein Nutzen von ihr abzusehen, weil dieser mittelbar seyn und hervortreten kann, wo man ihn nicht erwartet; so
finde ich hier doch noch hinzuzusetzen, daß man auch eben so sehr bestrebt seyn soll, jeden Irrthum aufzudecken und auszurotten, auch wo kein Schaden von ihm abzusehen, weil auch dieser sehr mittelbar seyn und einst hervortreten kann, wo man ihn nicht erwartet: denn jeder Irrthum trägt ein Gift in seinem Innern. Ist es der Geist, ist es die Erkenntniß, welche den Menschen zum Herrn der Erde macht;  so giebt es keine unschädliche Irrthümer, noch weniger ehrwürdige, heilige Irrthümer. Und zum Trost Derer, welche dem edlen und so schweren Kampf gegen den Irrthum, in irgend einer Art und Angele- genheit, Kraft und Leben widmen, kann ich mich nicht entbrechen, hier hinzuzusetzen, daß zwar so lange, als die Wahrheit noch nicht dasteht, der Irrthum sein Spiel treiben kann, wie Eulen und Fleder- mäuse in der Nacht: aber eher mag man erwarten, daß Eulen und Fledermäuse die Sonne zurück in den Osten scheuchen werden, als daß die erkannte und deutlich und vollständig ausgesprochene Wahrheit wieder verdrängt werde, damit der alte Irrthum seinen breiten Platz nochmals ungestört einnehme. Das ist die Kraft der Wahrheit, deren Sieg schwer und mühsam, aber dafür, wenn ein Mal errungen, ihr nicht mehr zu entreißen ist. 
[Arthur Schopenhauer´s sämmtliche Werke. Hrsg. von Julius Frauenstädt. 2. Auflage, Leipzig 1919, Band 2 : Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 41 ff.]

S .Arthur Schopenhauer . Lichtstrahlen aus seinen Werken.
Mit einer Biographie und Charakteristik Schopenhauer´s
 von > Julius Frauenstadt , 6. Aufl., Leipzig 1888, S. 2 f.

Weitere Zitate von Arthur Schopenhauer zum Thema
 Anschauung und Wahrheit > dort

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