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Theodor Fontane

Theodor Fontane
(1819-1898)

Studienkreis

Theodor Fontane :

Arthur Schopenhauer
und der Schopenhauerianer
Karl Ferdinand Wiesike

 Redaktion

Karl Ferdinand Wiesike

Karl Ferdinand Wiesike
(1798-1880) *

Schopenhauer hat ganz recht: das Beste, was wir haben, ist Mitleid.

Theodor Fontane schrieb das am 24. August 1893 in einem Brief an seine Tochter Mete.(1) Damit traf er einen zentralen Teil der Philosophie von Arthur Schopenhauer, nämlich dessen > Mitleidsethik.  Das kommt auch in Fontanes Novelle “L`Adultera” zum Ausdruck, wo die Stiftsanwärterin Friederike Sawat v. Sawatzki die Überzeugung vertrat “Und mitleidig sein ist noch viel mehr als bloß gütig sein und ist eigentlich das Beste, was die Menschen haben.”(2)

Über die beiden obigen Beispiele hinaus findet sich in den Schriften Fontanes vieles, was an Schopenhauer erinnert oder sogar direkt auf ihn Bezug nimmt, und zwar nicht selten in erstaunlicher Übereinstimmung mit dem Philosophen. Offenbar befasste sich Fontane “mit Schopenhauers Lehre ausführlicher als mit irgendeinem anderen philosophischen Ansatz”.(3)  Daher ist die Frage naheliegend: War Fontane vielleicht gar selbst Schopenhauerianer? Das “Fontane-Lexikon” gibt darauf  die Antwort: “Schopenhauers Weltanschauung stand Fontane überwiegend kritisch gegenüber, obwohl er ihn als Essayisten ´brillant` fand, was ihn überzeugte, war die lebenspraktische Umsetzung des tätigen Schopenhauerianers.”(4) Hierzu verweist das Lexikon auf das Stichwort ”Mitleid”

Um die Frage beantworten zu können, inwieweit Fontane tatsächlich der Weltan- schauung Schopenhauers kritisch gegenüberstand,  muss man sich nicht nur in Leben und Werk Fontanes, sondern auch in Schopenhauers Philosophie auskennen und sie in ihrer ganzen Tiefe verstanden haben. Bei Arthur Hübscher, dem Herausgeber und Kommentator von Schopenhauers Werken sowie langjährigen Präsidenten der Schopenhauer-Gesellschaft dürfte das der Fall gewesen sein. Hübscher hatte sich in seinem zur Wirkungsgeschichte Schopenhauers grundlegenden Werk “Denker gegen den Strom” ausführlich auch zum Einfluss Schopenhauers auf Fontane geäußert. Folgt man diesen Ausführungen Hübschers, so gewinnt man den Eindruck, dass  Fontane vermutlich Schopenhauer doch näher stand als es im Schopenhauer-Lexikon den Anschein hat.

Besonders oft und ausführlich wird Schopenhauer in Fontanes “Wanderungen durch die Mark Brandenburg” erwähnt, und zwar im Band “Fünf Schlösser”, 6. Kapitel “Schloss Plaue gegenüber”. Dort geht es vor allem um den Gutsbesitzer und ehemaligen Kaufmann Karl Ferdinand Wiesike, der zu einem Schopenhauerianer wurde, der an Verehrung für Arthur  Schopenhauer wohl fast alle anderen übertraf:

Wiesike, der sich nach einem erfolgreichen Berufsleben auf seinen Landsitz  in Plaue bei Brandenburg  zurückgezogen hatte und sich dort der Pflege seines Parkes und dem Studium der Homöopathie widmete, suchte weitere geistige Anregung. Diese fand er: Es war die Begegnung mit den Werken Arthur Schopenhauers und dann bei mehreren Besuchen in Frankfurt mit dem Philosophen selbst.(5) Arthur Schopenhauer wurde zum Ereignis seines Lebens, das ihn dann  bis zum Tode begleitete! Fontane, der Wiesike oft besuchte und ihn persönlich näher kannte, berichtete darüber im oben genannten Kapitel:

“Es war die Zeit des ersten intimeren  Bekanntwerdens Schopenhauers in Berlin, also etwa die Zeit der Regentschaft, als ein Ungefähr unseren Wiesike mit dem damaligen Chefredakteur der  ´Vossischen Zeitung`, Dr. Lindner, einem leidenschaftlichen Schopenhauerianer, zusammenführte. Diese Begegnung war entscheidend für Wiesike. Nichts von dem Alten wurde beiseite geschoben, was aber, von Stund` an, sein eigentlichstes Denken und Fühlen ausmachte, seiner Tätigkeit und seinem Gespräche den Stempel gab, das war doch Schopenhauer und die Schopenhauersche Weltanschauung. Daß er alle Werke des Philosophen kennenlernte, verstand sich von selbst, aber er las auch jede Zeile, die sich in Lob oder Tadel mit dem Manne beschäftigte, der ihm jetzt Leuchte und Gegenstand des Kultes war. Jedes Schopenhauersche Wort war ihm Weisheit, er sog wirkliche Lebenskraft daraus ...

Dankerfüllt trat er mit dem Frankfurter Philosophen in Korrespondenz, bald auch in persönliche Beziehungen, und beteiligte sich von da ab bei jedem Huldigungsakte, den die Schopenhauer-Enthusiasten inszenierten. Wiesike konnte sich nicht genug tun in Anerbietungen und Darbringungen und als Schopenhauers siebzigster Geburtstag gefeiert wurde, war er mit einem großen Goldpokal in der vordersten Reihe der Gratulanten. Einzelne Schwächen des so leidenschaftlich von ihm Gefeierten, seine Ruhmsucht und Eitelkeit, seine selbstische Begehrlichkeit und ein gewisser Mangel an Gentilezza entgingen ihm nicht, aber seine Bewunderung der geistigen Superiorität des Mannes war so groß, daß er ihm diese Mankos gern verzieh. ´Wo viel Licht ist, ist viel Schatten.` Er hielt es für seine Pflicht, über diese Schatten hinwegzusehen, und wenige Philosophen (auch die größten mit eingerechnet) wird es gegeben haben, die sich rühmen dürfen, in gleicher Weise gekannt, studiert und auswendig gelernt worden zu sein. Bis zu seiner letzten Stunde hielt Wiesike bei seinem Liebling aus ...” (6)

Nicht nur Wiesike, auch andere, die sich mit Schopenhauers Leben und Werk näher und ohne Vorurteil vertraut gemacht haben, halten seine  angeblichen, von Fontane geschilder- ten “Schwächen” für verzeihbar, denn Schopenhauer war kein Scheinheiliger. Obgleich von der Wahrheit seiner Philosophie fest überzeugt, hatte er aber nie auch nur den leisesten Anschein von Heiligkeit zu erwecken versucht. Selbst Schopenhauers ärgste Gegner müssen seine Ehrlichkeit anerkennen, denn diese ist trotz mancher “Schwächen” ein Grundzug seines Charakters. Jedoch auch jene Charaktereigenschaft, die, wie schon erwähnt, Fontane besonders schätzte, nämlich Mitleid, wird man Schopenhauer nicht ernsthaft absprechen können. Es gibt zahlreiche Belege aus Schopenhauers Leben, die zeigen, dass der Philosoph nicht bloß über das Mitleid schrieb, sondern dass er dieses durchaus selbst hatte, und zwar gegenüber Mensch und Tier.

Wenn Fontane, vielleicht sogar etwas überbetont, auf solche “Schwächen” hinwies, so ist das zwar eine Kritik an der Person Schopenhauers, muss aber damit nicht gleichermaßen auch eine Ablehnung von dessen Philosophie bedeuten. Soweit überhaupt, war für Fontane wohl der vermeintliche Pessimismus in Schopenhauers Philosophie ein Problem. Dieses, so schrieb Hübscher in seinem oben erwähnten Buch, “bringt uns gleich auf einen wesentlichen Unterschied. Schopenhauers Pessimismus gründet nicht auf dem Zufälligen, Einzelnen, Belanglosen, das uns das Leben verleiden kann, der philosophische Pessimismus will die Erklärung für das Allgemeine und Wesentliche geben, für das unveränderte Grundwesen der Welt, das im Willen zum Leben beruht. Fontanes Pessimismus ist anderer Art: er bleibt an das Einzelne, Zufällige und Widrige gebunden, das ihm das Leben von der Jugendzeit an schwer macht; er sucht es immer wieder zu überwinden, indem er ihm die heitere Seite abgewinnt.”(7)

Doch so ganz schien Fontane den vermeintlichen Pessimismus Schopenhauers nicht abzulehnen, denn in einem sehr anrührenden Nachruf zum Tod Wiesikes schrieb Fontane in der “Vossischen Zeitung” vom 18. Oktober 1880, Wiesike hätte “seinen Schopenhauer wohl zwanzigmal gelesen, bis zum Auswendigwissen ganzer Kapitel, und war in jeder Faser seines Wesens von ihm durchdrungen. Und daß der Pessimus nicht ruiniert, sondern unter Umständen auch eine fördernde, humanitäre Seite hat, dessen konnte man an dem alten Wiesike gewahr werden. Er hatte das Mitleid - das nach Schopenhauer der Menschheit bestes Theil  - und es sind ihrer viele, die die Segnungen dieses Mitleids erfahren haben. Es mögen jetzt sieben Jahre her sein, daß ich den alten Herrn auf seiner anmutigen Besitzung kennen lernte. Seitdem sah ich ihn öfter, meist wenn ich abgearbeitet und elend war, und nie bin ich von ihm fortgegangen, ohne mich an seiner Havel, an seinem Wein und, um das Beste nicht zu vergessen, an ihm selber erholt zu haben. Er verstand zu beleben, zu trösten, ohne daß je ein Trosteswort über seine Lippen gekommen wäre ... Ich kann seiner nicht ohne Dank und Rührung gedenken und zähle die mit ihm verplauderten Stunden zu den glücklichsten und bestangelegten meines Lebens.”(8)

Mit seiner Erkenntnis, daß “der Pessimismus nicht ruiniert, sondern unter Umständen auch eine fördernde, humanitäre Seite hat” und, wie das Beispiel des Schopenhauerianers Wiesike eindrucksvoll beweist, mit dem “besten Teil der Menschheit”, dem Mitleid, verbunden sein kann, kam Fontane Schopenhauer sehr nahe.  Seine Nähe zur Philosophie  Schopenhauers zeigte sich besonders auch gegen Ende seines Lebens, und zwar in seinem Roman “Der Stechlin”, den er kurz vor seinem Tod noch vollenden konnte. Dort lässt Theodor Fontane den alten sterbenden Dubslav von Stechlich  etwas aussprechen, was angesichts des Todes gleichsam als seine letzte Wahrheit gelten darf:

Das Ich ist nichts - und damit muß man sich durchdringen. Ein ewig Gesetzliches vollzieht sich, weiter nichts, und dieser Vollzug, auch wenn er ´Tod` heißt, darf uns nicht schrecken. In das Gesetzliche sich ruhig schicken, das macht den sittlichen Menschen und hebt ihn.(9)

So ist in den Worten des alten Stechlins und damit Fontanes letztlich Resignation, ein Sich-Schicken in den unentrinnbaren Tod herauszuhören; wo aber ist da eine Hoffnung, ein Trost? Fontane schrieb nach der Lektüre von Schopenhauers “Parerga und Paralipomena”:

“Geistvoll und interessant und anregend ist alles; vieles zieht einem einen Schleier von den Dingen oder den Augen fort und gewährt einem den Genuß freudigen Schauens; über Dinge, über die man aus Mangel an Erkenntnis oder auch aus einer gewissen Feigheit im unklaren war, wird man sich klar: man hat die angenehme Empfindung: das erlösende Wort wurde gesprochen ... “(10)

Dieses “erlösende Wort” - Fontane vernahm es als “angenehme Empfindung”, verinnerlichte er es aber? Wiesike tat es!

 

Anmerkungen

*      Bild von Karl Friedrich Wiesike aus: Arthur Schopenhauer,
Leben und Werk in Texten und Bildern  von Angelika Hübscher ,
1. Aufl., Insel Verlag - Frankfurt am Main 1989, S. 316 (Bild 400).

(1)   Brief zit. nach Arthur Hübscher, Denker gegen den Strom,
Schopenhauer: Gestern-Heute-Morgen, 2. Aufl., Bonn 1982, S. 297.

(2)   Helmuth Nürnberger und Dietmar Storch, Fontane Lexikon,
München 2007, S.312 ( Stichwort: Mitleid ).

(3)   Zu dieser Auffassung s. Fontane Lexikon, a.a.O., S. 403
 (Stichwort: Schopenhauer).

(4)   Ebd.,  S. 403.

(5)   Nach diesen Besuchen hatte der auch seinen Anhängern gegenüber
durchaus kritische Schopenhauer den Eindruck, Wiesike wäre “ein sehr
vernünftiger Mann”. (Brief Schopenhauers an Frauenstädt v. 11.09. 1854,
s. Arthur Schopenhauer, Gesammelte Briefe, hrsg. von Arthur Hübscher,
2. Aufl.,  Bonn 1987, S. 350 (Nr. 341).

(6)  Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Taschenbuchausgabe in fünf Bänden, 5. Band: Fünf Schlösser,
 München 1971, S. 125 f.

(7)   Arthur Hübscher, a.a.O., S. 297.

(8)   Zit. nach Arthur Hübscher, a.a.O., S. 294 f.

(9)   Theodor Fontane, Der Stechlin, Stuttgart 1999, S. 439.

(10) Zit. aus: Über Arthur Schopenhauer , hrsg. von Gerd Haffmans,
3. Aufl., Zürich 1981, S. 186
(dort zu Theodor Fontane genauerer Quellennachweis)
.

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