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Erziehung - Bildung - Abrichtung

          Die Religion ist das Meisterstück der Abrichtung. Arthur Schopenhauer

Die natürliche Erziehung geht von den Anschauungen aus und bildet daraus die Begriffe. Mit dieser grundsätzlichen Feststellung leitete Arthur Schopenhauer das Kapitel Ueber Erziehung in Band 2 von Parerga und Paralipomena ein.(1)

In der pädagogischen Praxis ist aber oft das Gegenteil der Fall. Schopenhauer nannte das künstliche Erziehung. Bei ihr “wird, durch Vorsagen, Lehren und Lesen, der Kopf voller Begriffe gepfropft, bevor noch eine irgend ausgebreitete Bekanntschaft mit der anschaulichen Welt da ist. Die Anschauung zu allen jenen Begriffen soll nun die Erfahrung nachbringen: bis dahin aber werden dieselben falsch angewendet und demnach die Dinge und Menschen falsch beurtheilt, falsch gesehn, falsch behandelt. So geschieht es, daß die Erziehung schiefe Köpfe macht, und daher kommt es, daß wir in der Jugend, nach langem Lernen und Lesen, oft theils einfältig, theils verschroben in die Welt treten und nun bald ängstlich, bald vermessen uns darin benehmen; weil wir den Kopf voll Begriffe haben, die wir jetzt anzuwenden bemüht sind, aber fast immer sie verkehrt anbringen.”(2)

Schlimmer und wirkungsvoller ist jedoch eine Erziehung, die Schopenhauer als Abrichtung bezeichnete, “denn an Abrichtungsfähigkeit übertrifft der Mensch alle Thiere”, wobei “die Religion das rechte Meisterstück der Abrichtung ist, nämlich die Abrichtung der Denkfähigkeit, daher man bekanntlich nicht früh genug damit anfangen kann. Es giebt keine Absurdität, die so handgreiflich wäre, daß man sie nicht allen Menschen fest in den Kopf setzen könnte, wenn man nur schon vor ihrem sechsten Jahre anfienge, sie ihnen einzuprägen, indem man unablässig und mit feierlichstem Ernst sie ihnen vorsagte. Denn, wie die Abrichtung der Thiere, so gelingt auch die des Menschen nur in früher Jugend vollkommen.”(3)

Was Arthur Schopenhauer hier als Abrichtung beschrieb, ist seit Jahrtausenden erfolgreiche Praxis von Religionen und Weltanschauungen, die ihre angeblichen Heilslehren dem Menschen aufgedrängt, ja nicht selten gewaltsam aufgezwungen haben. Die Möglichkeit, wirkliche Bildung zu vermitteln, beurteilte Schopenhauer skeptisch:

“Eigentliche  Bildung, bei welcher Erkenntniß und Urtheil Hand in Hand gehen, kann nur Wenigen zugewandt werden und noch Wenigere sind fähig sie aufzunehmen”. Für die meisten Menschen hingegen “tritt überall an ihre Stelle eine Art Abrichtung; sie wird bewerkstelligt durch Beispiel, Gewohnheit und sehr frühzeitiges, festes Einprägen gewisser Begriffe, ehe irgend Erfahrung, Verstand, Urtheilskraft da wären, das Werk zu stören. So werden Gedanken  eingeimpft, die nachher  so fest  und durch keine Belehrung zu erschüttern haften, als wären sie angeboren, wofür sie auch oft, selbst von Philosophen, angesehen worden sind. Auf diesem Wege kann man, mit gleicher Mühe, den Menschen das Richtige und Vernünftige, oder auch Absurdeste einprägen,  z. B. sie gewöhnen, sich diesem oder jenem Götzen nur von heiligem Schauer durchdrungen zu nähern und beim Nennen seines Namens nicht nur mit dem Leibe, sondern mit dem ganzen Gemüthe sich in den Staub zu werfen; an Worte, an Namen, an die Vertheidigung der abentheuerlichsten Grillen, willen ihr Eigenthum und Leben zu setzen; die größte Ehre und tiefste Schande beliebig an Dieses oder an Jenes zu knüpfen und danach Jeden mit innigster Ueberzeugung hoch zu schätzen, oder zu verachten ...”(4)

Seit Schopenhauer obige Worte schrieb, sind mehr als 150 Jahre vergangen. Haben die Menschen sich seitdem wirklich geändert? Ist es nicht auch heute noch so, wie Schopenhauer sie beurteilte? Wer auf diese Fragen Antworten sucht, darf seinen Kopf nicht vom Zeitgeist benebeln lassen. Das ist nicht einfach, denn die vermeintlich fortschrittliche Erziehung ist mitunter auch Abrichtung.

 
Anmerkungen
(1) Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Zürich 1977, Band X: Parerga und Paralipomena II, S. 682 f.
(2) Ebd.
(3) Arthur Schopenhauer , a. a. O,  S. 655 f.
(4) Arthur Schopenhauer, a. a. O., Band III: Die Welt als Wille und Vorstellung II, S. 84. 

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