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Ernst Otto Lindner

- der “Apostel” Arthur Schopenhauers
 

“Vortrefflicher Apostel”, so nannte Arthur Schopenhauer einen seiner jüngeren Anhänger: Ernst Otto Lindner (1820-1867). “Apostel” - das waren für Schopenhauer jene seiner Anhänger, die sich besonders aktiv für die Verbreitung seiner Philosophie einsetzten.

Wie Schopenhauer in einem Brief mitteilte, hatte sich Lindner als Privatdozent der Philosophie in Breslau habilitiert. Die Lehrbefugnis sei ihm jedoch “wegen seines Mangels an christlicher Gesinnung” sogleich wieder entzogen worden.(1) Daraufhin arbeitete er als Redakteur der Vossischen Zeitung in Berlin. Diese Stellung erleichterte es Lindner, Schopenhauers Philosophie in mehreren Aufsätzen vorzustellen. Da die Vossische Zeitung täglich in verhältnismäßig großer Auflage erschien und unter dem norddeutschen Bildungsbürgertum ziemlich weit verbreitet war, konnte Lindner erheblich dazu beitragen, Schopenhauers Philosophie einer größeren Öffentlichkeit bekannt zu machen.

Eine besonders wichtige Rolle spielte in diesem Zusammenhang der von John Oxenford zu Schopenhauer und seiner Philosophie 1853 in der Westminster Review veröffentlichte Artikel Iconoclasm in German Philosophy. Schopenhauer schrieb dazu an Lindner: “Meine Philosophie hat soeben den Fuß in England gesetzt, welches ich durch den seltsamsten Zufall erfahren habe: näml(ich) mein einziger specieller Freund hieselbst, Dr. Emden, der keine Englischen Zeitungen zu lesen pflegt, nimmt, im großen Klub, aus vielen Englischen Zeitungen, ein Mal den Economist, ein kommerzielles und industrielles Wochenblatt, in die Hand, und wie er es aufschlägt, starrt ihm, p. (Seite) 399, desselben, sogleich mein Name entgegen. Dort werden näml(ich) zum Nachtisch Referate des Inhalts der großen Reviews gegeben, und wird berichtet, daß in der Westminster Review Nr VI, April, die 3te Recension mich zum Thema hat ...”(2) Schopenhauer bestellte sich daraufhin diese Review, meinte aber im gleichen Brief zu Lindner: “In Berlin ist sie wahrscheinl(ich) schon jetzt im Königl. Lesezimmer. Wenn die Recension, die von mir überhaupt zu handeln scheint, irgend von Belang ist; so wären Sie gerade der Mann, dem deutschen Publiko davon zu erzählen, sei es im ´Ausland` oder  sonst: denn die Leute, welche eigentl(ich) Englisch verstehen, sind immer noch selten.”(3)

 Nachdem Lindner ihm die Review umgehend beschafft und er den Beitrag Oxfords gelesen hatte, wandte  sich Schopenhauer erneut an Lindner: “Für unsere Professoren ist der Artikel wieder eine neue, wahre Kalamität: sie werden ihn nicht verkünden, sondern zum Teufel wünschen. Um so mehr sollte es mich freuen, wenn Sie, vortrefflicher Apostel, Mittel und Wege fänden, den Deutschen ein Ausführliches darüber mitzutheilen; da Sie gerade einer der Wenigen sind, die wirklich Englisch verstehn,  und allen Andern entweder die Fähigkeit, oder der Wille fehlt. Die ersten 6 Seiten verdienen ganz übersetzt zu werden,  ja selbst das Ganze: aber wo?...”(4)

Lindner konnte Schopenhauer tatsächlich sehr behilflich sein, und zwar zunächst durch seine Frau Albertine, einer gebürtigen Engländerin. Sie übersetzte Oxenfords Artikel ins Deutsche. Schopenhauer fand ihre Übersetzung “im Ganzen sehr gut und richtig”.(5) Er hatte diese Übersetzung  vorher “durchweg genau verglichen” und mit Randbemerkungen und Korrekturen versehen.

Als Schopenhauer die Übersetzung erhalten hatte, schrieb er voller Anerkennung an Lindner: “Ihre Zusendung hat mich höchlich erfreut. Vor allem meinen verbindlichsten Dank Ihrer Frau Gemahlin, die sich einer Arbeit unterzogen hat, welche für eine Dame gewaltig abstrakt und meta- physisch ist. Und wenn ich mir dieses junge Ehepaar denke, das seine Stunden opfert und Mühe verwendet, um an meinem Ruhme zu arbeiten, - so kann das wahrlich einen alten Kerl rühren.”(6)

Da Oxenfords Artikel einige erhebliche Mängel hatte, war es notwendig, die Übersetzung zu ergänzen. Lindner schrieb deshalb einen Kommentar, wobei er Schopenhauers Anmerkungen weitestgehend berücksichtigte. Lindners Darstellung wurde dann von Schopenhauer nicht nur gebilligt, sondern besonders gelobt.  “Ihr Epilog”, so Schopenhauer an Lindner, ”ist  s e h r   g u t : behalten Sie ihn ja bei.”(7)

Oxenfords Beitrag wurde danach von Lindner in der von seiner Frau übersetzten  und von ihm kommentierten Fassung in der Vossischen Zeitung veröffentlicht.(8) Dort trug sie den Titel Deutsche Philosophie im Auslande, obwohl Schopenhauer es vorgezogen hätte, wenn die Überschrift sich an ihrer ursprünglichen, also englischen Bezeichnung orientiert hätte:  “Auch müßten Sie”, schrieb Schopenhauer an Lindner, “dem Dinge seinen wahren Titel lassen: ´Ikonoklasmus in D. P.`- allenfalls ließe sich hinzufügen: ´ein Englisches Urtheil über A. S.`.(9)  Offenbar   war Schopenhauer sehr daran gelegen, bereits im Titel deutlich zu machen, dass seine Philosophie durchaus einem “Bildersturm” in der deutschen Philosophie gleichkommt.

Lindner wurde zu einem der aktivsten ”Apostel” Schopenhauers, weil er von ihm und seiner Philosophie so fest wie kaum ein anderer überzeugt war. In seinem Nachwort zu Oxenfords Beitrag hob er Schopenhauer auch als Schriftsteller hervor, “der eine, zumal in der Philosophie, so äußerst seltene  Darstellungsgabe besitzt, deren Klarheit und Objectivität nur durch den Tiefsinn des Inhalts übertroffen wird”.(10)

Diese hohe Wertschätzung beruhte auf Gegenseitigkeit: Schopenhauer war sich sehr bewusst, was er, und zwar  nicht nur in philosophischer, sondern darüber hinaus auch in menschlicher Hinsicht, an dem “jungen Ehepaar” Lindner hatte, denn, so der damals 65-jährige Schopenhauer an Lindner:

Das ist eine rechte Herzensstärkung im Alter, wo die Freunde unserer Jugendzeit fast alle weggestorben sind, daß wir neue und junge Freunde finden, welche an Theilnahme und Eifer die ehemaligen übertreffen ... Ich bin so glücklich einige solche junge Freunde mir erworben zu haben ...(11)  .

Otto Ernst Lindner zu Schopenhauers Verteidigung

Der obige Bildausschnitt aus der Titelseite des von Lindner gemeinsam mit Julius Frauenstädt 1863 in Berlin herausgegebenen Buches über Schopenhauer zeigt, dass Lindner noch nach dem Tod Schopenhauers (+ 1860) für diesen  als “Apostel” publizistisch tätig war. Auch mit diesem, wie es im Titel heißt, Wort zur Verteidigung Schopenhauers machte sich Otto Ernst Lindner um die Bewahrung des philosophischen Erbes Arthur Schopenhauers verdient.  

Anmerkungen
(1)    Schopenhauers Brief vom 13.6.1853 an Johann August Becker.
In: Arthur Schopenhauer, Gesammelte Briefe,
hrsg, von Arthur Hübscher, 2. Aufl., Bonn 1987, S. 314 f.
(2)    Brief vom 27.4.1853, Ebd., S. 309.
(3)    Ebd.
(4)    Brief vom 9.5.1853. Ebd., S. 311.
(5)    Brief vom 9.6.1853, a. a. O., S. 313.
(6)    Ebd., S. 312.
(7)    Ebd., S. 313.
(8)   Dieser Artikel wurde bald danach in den von Julius Frauenstädt herausgegebenen Briefe über die Schopenhauer´sche  Philosophie, Leipzig 1854, S. 1 ff., nachgedruckt. 
(9)    Brief vom 9.6.1853, a. a. O., S. 313.
(10)  Frauenstädt, Briefe, a. a. O., S. 34.
(11)  Brief vom 9.5.1853, a. a. O., S. 311

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