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Arthur Schopenhauer

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Das Böse und das Mitleid
 in Schopenhauers Erlösungsphilosophie
- ein Beitrag zur Mitleidsethik Arthur Schopenhauers 

Das Erstaunen, welches zum Philosophieren treibt,
 entspringt offenbar dem Anblick
 des Übels und des Bösen in der Welt.
 Arthur Schopenhauer * , W II, S. 190.

Der bekannte Journalist und Bestsellerautor Peter Scholl-Latour; der seit mehr als 60 Jahren die ganze Welt als Reporter erkundete, wurde in einem Interview gebeten, ein knappes Fazit seiner Lebenserfahrungen zu geben. Scholl-Latours sehr aufschlussreiche und nachdenkenswerte Antwort:

“... Der Mensch ist nicht gut. In Indochina, wo ich nach meiner Genesung als französischer Fallschirmjäger diente, habe ich erstmals das Böse im Menschen erlebt. Es war bei unserer Landung im Hafen Haiphong. Drei Soldaten meiner Truppe, die sich unvorsichtig entfernt hatte, fanden wir in einem Kanal wieder. Man hatte ihnen die Augen ausgestochen und sie entsetzlich verstümmelt ...”(1)

Die bittere Erkenntnis aus seinem entsetzlichen Erlebnis, aus seiner Begegnung mit dem Bösen  war für Peter Scholl-Latour:  “Es ist ein Irrtum, dass der Mensch im Kern gut sei. Der Mensch ist das schlimmste Raubtier, das es je gegeben hat. Ich habe gesehen,  dass das Böse wirklich existiert ...”(2)

Wer Arthur Schopenhauer nicht nur oberflächlich gelesen, sondern ihn aufgrund eigener Lebenserfahrung auch verstanden hat, wird über Scholl-Latours “Fazit” kaum schockiert sein, denn Schopenhauer kam schon vor mehr als 150 Jahren zu einem ähnlichen Ergebnis. Für Schopenhauer war die Existenz des Bösen eine so wesentliche und erschütternde Tatsache, dass er sie sogar zum Ausgangspunkt seiner Philosophie machte.

Durchaus vergleichbar mit dem von ihm hoch verehrten Buddha, suchte er nach der eigentlichen Ursache des Bösen bzw. des damit verbundenen Leides in dieser Welt. Er fand sie in dem, was er Wille nannte. Alles in dieser Welt und somit auch alles Böse ist Ausdruck, ist Manifestation eines (metaphysischen) Willens, der sich auch und vor allem im Willen jedes Individuums äußert. Einer der kompetentesten Kenner der Philosophie Schopenhauers, Arthur Hübscher, äußerte sich zu diesem Thema, wobei er es in einen größeren Zusammenhang mit der Ethik Kants und der Mitleidsethik Schopenhauers stellte:

“Der Wille ist ewig erneuerte Begierde, zielloses Streben; Unbefriedigtsein und daher Unlust ohne Ziel und Ende. Alle Lust ist flüchtige Aufhebung einer Unlust, sie erlischt, um neuen Begehren, neuen Schmerzen Platz zu machen. ... Not und Unglück sind unlöslich mit der Bejahung des Willens verknüpft.”(3) Wenn dem so ist, dann liegt der Schluss nahe, dass mit  der Aufhebung des Willens, also mit dessen Verneinung, auch die Ursache des Leids und des Bösen behoben wird.

Das Böse zu überwinden, ist Ziel der Ethik. Dazu nochmals Arthur Hübscher:

“Die Frage der Verneinung des Willens stellt sich hier auf höherer Ebene, und wieder kann Kant nicht Wegweiser und Führer sein: Als Kant im ersten Stück seiner `Religion innerhalb der Grenzen der menschlichen Vernunft` (1792) zum erstenmal das radikal Böse in der menschlichen Natur mit einer Eindringlichkeit vertrat, die damals schweren Anstoß erregte, glaubte er immerhin noch an einen Fortschritt der Kulturentwicklung, der das allgemeine Elend zum Besseren wenden werde, er glaubte die Mittel zur Beförderung der Sittlichkeit in der Religion zu finden, in der Kirche, in einer geordneten Staatsverfassung, - in Vorrichtungen, die auf Verhütung des Unrechtleidens hinauslaufen, auf ein Glückseligkeitsprinzip also, hinter dem verkappter Egoismus steckt ...” Egoismus, egal ob er sich offen oder versteckt äußert, kann jedoch nach Schopenhauer nicht die Basis der Ethik sein. Deshalb folgerte Hübscher ganz im Sinne Schopenhauers: “Kants Moralgesetz mag daher als Grundlage der Staatslehre tauglich sein, als Grundlage der Ethik taugt sie nichts.” Ganz anders hingegen Schopenhauers Mitleidsethik:

“Schopenhauers Ethik”, wie Hübscher unter Hinweis auf Schopenhauers Preisschrift über die Grundlage der Moral erklärte, “schließt jede Wertbestimmung des menschlichen Handelns durch allgemeine Vorschriften aus. Sie ist keine Anweisung zur Tugend wie die Ethiken aller Schulen noch zu seiner Zeit, sie lehrt nicht, wie man sich sittlich verhalten soll, sie zeigt, wie die Menschen sich wirklich verhalten. Sie untersucht die Grundtypen ihres Handelns und führt sie auf den letzten Grund zurück: die negativen Verhaltensweisen, deren Quelle der Egoismus ist, und die Handlungen von moralischem Wert, deren Grundlage und Triebfeder das Mitleid ist, - das ethische Urphänomen.”

Wie das Mitleid ist auch das Böse im “Urgrund des Willens selbst” begründet und daher “metaphysischer Natur”. Arthur Schopenhauer wies hierauf mit Nachdruck hin. Seine Philosophie  unterscheidet sich dadurch fundamental von den Lehren aller anderen Philosophen, die das Böse in der Welt durch die  jeweils herrschenden politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse zu erklären suchen.

Wenn das Böse letztlich “metaphysischer Natur” ist, dann kann es grundsätzlich nicht mit Klassenkampf und ähnlichen Methoden überwunden werden. Schopenhauer sah hierzu jedoch eine ganz andere Möglichkeit, nämlich die, dass sich der verhängnisvolle Wille selbst verneint und so die eigentliche Ursache des Bösen und des Leides aufgehoben wird. Obwohl er das gleichsam als “Gnadenakt” verstand, schloss er in seinem Brief vom 23. August 1844 an seinen Freund Johann August Becker nicht aus, dass “die Welt ein mit Notwendigkeit sich vollziehender Läuterungsprozess des Willens” sein könne.(4) Demnach hätte das “radikal Böse” nicht unbedingt das letzte Wort, denn der sich “läuternde” bzw. sich selbst verneinende (metaphysische) Wille, ob als Gnadenwirkung oder Notwendigkeit, würde am Ende zum Erlöschen des Bösen zu führen.

Gerade hieran wird deutlich, dass Schopenhauers Philosophie sich nicht in der Beschreibung des Bösen dieser Welt erschöpft. Im Gegenteil, in ihrem Kern ist sie - was wohl keiner, der sich nur oberflächlich mit Schopenhauers Lehre  beschäftigt, erwartet - eine Erlösungsphilosophie, die Hoffnung und Trost bietet.

                                                                                                               Anmerkungen
* Arthur Schopenhauer , Zürcher Ausgabe, Werke in zehn Bänden, Zürich 1977, Band III: Die Welt als Wille und Vorstellung II,
S. 200.
(1) Wochenzeitschrift tv Hören und Sehen, Nr 11 / 2013, S. 11.
(2) Ebd.
(3) Hierzu und den folg. Zitaten: Arthur Hübscher, Denker gegen den Strom. Schopenhauer: Gestern-Heute-Morgen,
2. Aufl., Bonn 1982, S. 142 f.
(4) Arthur Schopenhauer , Gesammelte Briefe,
hrsg. von Arthur Hübscher,  2. Aufl., Bonn 1987, S. 213 ff.

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