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Carl Gustav Jung : Arthur Schopenhauer

Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte Schopenhauers

Zur Tiefe und Bedeutung seiner Philosophie schrieb Arthur Schopenhauer : 

Als den eigenthümlichen Charakter meines Philosophierens darf ich anführen, dass ich überall den Dingen auf den Grund zu kommen suche, indem ich nicht ablasse, sie bis auf das letzte, real Gegebene   zu verfolgen ... Daher hat die Menschheit Manches, was nie vergessen wird, von mir gelernt.(1)

Zu denen, die offenbar manches von Schopenhauer gelernt hatten, gehörte der weltberühmte Psychologe und Psychiater Carl Gustav Jung, oft nur abgekürzt C. G. Jung. Jedenfalls geht das auch aus dessen persönlichen “Erinnerungen” hervor.(2) Hiernach hatte er sich schon in jungen Jahren intensiv mit Schopenhauer befasst, ohne jedoch dabei zum kritiklosen Bewunderer Schopenhauers zu werden:

“Der große Fund meiner Nachforschung ... war Schopenhauer. Er war der erste, der vom Leiden der Welt sprach, welche uns sichtbar und aufdringlich umgibt, von Verwirrung und Leidenschaft, Bösem, das alle anderen kaum zu beachten scheinen und immer in Harmonie und Verständlichkeit auflösen wollten. Hier war endlich einer, der den Mut zur Einsicht hatte, daß es mit dem Weltengrund irgendwie nicht zum Besten stand. Er sprach weder von einer allgütigen und allweisen Providenz (Vorsehung) der Schöpfung, noch von einer Harmonie des Gewordenen, sondern sagte deutlich, daß dem leidensvollen Ablauf der Menschheitsgeschichte und der Grausamkeit der Natur ein Fehler zugrundelag, nämlich die Blindheit des weltschaffenden Willens. Ich fand dies bestätigt durch meine frühen Beobachtungen von kranken und sterbenden Fischen, von räudigen Füchsen, erfrorenen und verhungerten Vögeln, von der erbarmungslosen Tragödie, die eine blumengeschmückte Wiese verbirgt: Regenwürmer, die von Ameisen zu Tode gequält werden, Insekten, die einander Stück für Stück auseinanderreißen usw. Aber auch meine Erfahrungen an Menschen hatten mich alles andere als den Glauben an ursprüngliche menschliche Güte und Sittlichkeit gelehrt. Ich kannte mich selber gut genug, um zu wissen, daß ich mich sozusagen nur graduell von einem Tier unterschied.

Schopenhauers düsteres Gemälde der Welt fand meinen ungeteilten Beifall, nicht aber seine Problemlösung. Es war mir sicher, daß er mit seinem  ´Willen ` eigentlich Gott, den Schöpfer, meinte und diesen als ´blind` bezeichnete. Da ich aus Erfahrung wußte, daß Gott durch keine Blasphemie gekränkt wurde, sondern sie im Gegenteil sogar fordern konnte, um nicht nur die helle und positive Seite des Menschen, sondern auch dessen Dunkelheit und Widergöttlichkeit zu haben, so verursachte mir Schopenhauers Auffassung keine Beschwerden. Ich hielt sie für ein durch die Tatsachen gerechtfertigtes Urteil. Umso mehr aber enttäuschte mich sein Gedanke, daß der Intellekt dem blinden Willen nur dessen Bild entgegenhalten müsse, um diesen zur Umkehr zu veranlassen. Wie konnte der Wille überhaupt dies Bild sehen, da er ja blind war? Und warum sollte er, auch wenn er es sehen könnte, dadurch bewogen werden, umzukehren, da das Bild ihm gerade das zeigen würde, was er ja wollte? Und was war der Intellekt? Er ist Funktion der menschlichen Seele, kein Spiegel, sondern ein infinitesimales Spiegelchen, das ein Kind der Sonne entgegenhält und erwartet, daß sie davon geblen- det würde. Das erschien mir als völlig inadaequat. Es war mir rätselhaft, wie Schopenhauer auf eine derartige Idee verfallen konnte.

Das veranlaßte mich, ihn noch gründlicher zu studieren, wobei  ich in zunehmendem Maße von seiner Beziehung zu Kant beeindruckt wurde. Ich begann daher, die Werke dieses Philosophen, vor allem die ´Kritik der reinen Vernunft` mit vielem Kopfzerbrechen zu lesen. Meine Bemühungen lohnten sich, denn ich glaubte den Grundfehler in Schopenhauers System entdeckt zu haben: er hatte die Todsünde begangen, eine metaphysische Aussage zu machen, nämlich ... ein ´Ding an sich` zu hypostasieren (vergegenständlichen) und zu qualifizieren. Dies ergab sich aus Kants Erkenntnistheorie, welche für mich eine womöglich noch größere Erleuchtung als Schopenhauers ´pessimistisches` Weltbild bedeutete.

Diese philosophische Entwicklung erstreckte sich von meinem siebzehnten Lebensjahr bis weit in die Jahre meines Medizinstudiums hinein. Sie hatte eine umwälzende Änderung meiner Einstellung zu Welt und Leben im Gefolge. War ich früher scheu, ängstlich, mißtrauisch, bleich, mager und von anscheinend schwankender Gesundheit, so meldete sich jetzt ein gewaltiger Appetit in jeder Hinsicht. Ich wußte, was ich wollte und griff danach. Offensichtlich wurde ich auch zugänglicher und mitteil- samer. Ich entdeckte, daß die Armut kein Nachteil und bei weitem nicht der Hauptgrund der Leiden war und daß die Söhne der Reichen keineswegs im Vorteil gegenüber den armen und schlechtbekleideten Jungen waren. Es gab viel tiefere Gründe für Glück und Unglück als den Umfang des Taschengeldes.”(3)

 Obwohl Carl Gustav Jung, angeregt durch Arthur Schopenhauer, sich dann  Kant zuwandte, blieb auch in Jungs weiterem Leben Schopenhauers Auffassung der Welt, weil sie auf einem “durch die Tatsachen gerechtfertigten Urteil” beruht, mehr oder weniger präsent. Das war jedoch im Hinblick auf die christliche Erziehung in seiner Jugendzeit nicht unproblematisch: “Jene Zeit”, so Jung, “war erfüllt vom Widerstreit der Gedanken. Schopenhauer und das Christentum wollten sich nicht reimen.” Jung erlebte das als einen “Zusammenprall der Gegensätze”.(4)  Gerade die oben zitierte realistische Beschreibung der Natur, also der vermeintlichen Schöpfung, als Ort des Schreckens und die ebenfalls ganz mit Schopenhauer übereinstimmende Feststellung Jungs, Mensch und Tier unterschieden sich nur graduell voneinander, zeigen deutlich den Gegensatz zum Christentum.(5) Hierzu sei erwähnt, dass wie Schopenhauer auch der ihm nahe stehende Buddhismus die abgrundtiefe Trennung zwischen Mensch und Tier ablehnt und somit beide auch in dieser Hinsicht im prinzipiellen Gegensatz zum Christentum stehen.(6)

  Während einer Indien-Reise besuchte Jung 1938 auch buddhistische Heiligtümer. In diesem Zusammenhang äußerte sich Jung anerkennend über den Buddha und über Schopenhauer:  

“Es war der Buddhismus, der mir dort in einer neuen Wirklichkeit erschien. Ich verstand das Leben Buddhas als die Wirklichkeit des Selbst, die ein persönliches Leben durchdrungen und für sich in Anspruch genommen hat. Für Buddha steht das Selbst über allen Göttern und stellt die Essenz der menschlichen Existenz und der Welt überhaupt dar. Als ein unus mundus (eine Welt) umfaßt es sowohl Aspekte des Seins an sich, wie auch den seines Erkanntseins, ohne den eine Welt nicht ist. Buddha hat die kosmogenische Würde des menschlichen Bewußtseins wohl gesehen und verstanden; darum sah er deutlich, daß, wenn es einem gelänge, das Licht des Bewußtseins auszulöschen, die Welt ins Nichts versänke. Schopenhauers unsterbliches Verdienst war es, dies noch oder wieder erkannt zu haben.”(7)

Ob und inwieweit obige Interpretation Jungs für die ursprünglichen Lehre des Buddha zutrifft, soll hier offen bleiben. Was hingegen Schopenhauer angeht, so hat Jung sich hier wahrscheinlich auf eine zentrale, ziemlich schwer verständliche Aussage von Schopenhauers Philosophie  bezogen, die bereits im Titel von Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung zum Ausdruck kommt: Ist die Welt nur eine Vorstellung, so versinkt sie, wenn die Vorstellung im Bewusstsein des Vorstellenden durch dessen Tod erlöscht. Die Welt ist aber auch ”Wille”, und zwar in dem Sinne, dass  sie als Manifestation des Willens in Erscheinung tritt. Dieser (metaphysische) Wille ist laut Schopenhauer das (Kantsche) “Ding an sich”, das nicht wie seine Erscheinungsformen Zeit und Raum unterworfen ist und deshalb als solches auch vom Erlöschen des Bewusstseins durch den Tod nicht betroffen wird.

An die Willenslehre Schopenhauers erinnert auch die Aussage Jungs: “Kein bewußter Wille wird je auf Dauer den Lebenstrieb ersetzen.”(8) Für Schopenhauer war der überaus bedeutsame Wille zum Leben die wichtigste und deutlichste Manifestation des “Dings an sich”, dem er deshalb den Namen Wille gab.(9)

Wer sich intensiver mit Jungs Lehren befasst, wird dabei auf Aussagen stoßen, die auf Arthur Schopenhauer hindeuten. In einem Brief an Wolfgang Pauli, Nobelpreisträger für Physik und einer der überzeugtesten Schopenhauer-Anhänger, schrieb Jung, dass Schopenhauer Pate gestanden hätte, als er seine Lehre von der Synchronizität entwickelte.(10) Hierbei verstand Jung unter dem Begriff Synchronizität “Gleichzeitigkeit ... des kausal nicht Zusammenhängenden, die man Zufall nennt”(11).

Der eben erwähnte Fall scheint eine Ausnahme zu sein, weil wohl nur dort  hatte Jung aus- drücklich die Urheberschaft Schopenhauers angegeben. Dennoch dürfte es zutreffen: Carl Gustav Jung verdankte  Arthur Schopenhauer weit mehr als das, was aus seinen Aufzeichnungen eindeutig hervorgeht und hier dargestellt werden kann. 

Arthur Hübscher wies in seinem Buch zur Wirkungsgeschichte Schopenhauers darauf hin, dass der Weg zur modernen Psychologie von Arthur Schopenhauer als Begründer der Triebpsycho- logie über Sigmund Freud zu C. G. Jung führte.(12) Freud selbst hatte den Zusammenhang seiner Lehre mit der Philosophie Schopenhauers anerkannt: “Die wenigsten Menschen dürften sich klar- machen, einen wie folgenschweren Schritt die Annahme unbewußter seelischer Vorgänge für Wissenschaft und Leben bedeuten würde. Beeilen wir uns aber hinzuzufügen, daß nicht die Psychoanalyse diesen Schritt zuerst gemacht hat. Es sind namhafte Philosophen als Vorgänger anzuführen, vor allem der große Denker Schopenhauer, dessen unbewußter Wille den seelischen Trieben der Psychoanalyse gleichzusetzen ist.”(13)

Jung, der zwar später von Freud abweichende Auffassungen vertrat, ging zunächst von der Psychoanalyse Freuds aus, wobei er mit diesem eng zusammenarbeitete. Schon deshalb liegt der Gedanke nahe, dass diese Arbeit, auch wenn er das nicht hervorhob, im Schatten Schopenhauers stand. Somit zeigt auch das Beispiel Carl Gustav Jungs: Der Schatten des “großen Denkers” Arthur Schopenhauer ist lang; er reicht bis in die Gegenwart und wird auch in Zukunft präsent bleiben.
                                                                                                                                                               

Anmerkungen

(1) Arthur Schopenhauer , Werke in zehn Bänden,
Zürich 1977 (Zürcher Ausgabe), Band VII:
Parerga und Paralipomena I,  S. 149 f.

(2) Erinnerungen, Träume, Gedanken von C. G. Jung.
Aufgezeichnet und  herausgegeben von Aniela Jaffe,
Sonderausgabe, Freiburg im Breisgau, 1984.

(3) Ebenda, S. 74 ff.

(4) Ebenda, S. 85 f.

(5) Vgl. Arthur Schopenhauer über die Tiere .

(6)  Weiteres s.  Christentum , Buddhismus und die Tiere
> Blogbeitrag .

(7)  Erinnerungen, a. a. O., S. 282 f.;
Zum Buddhismus s. Schopenhauer und Buddhismus .

(8) Ebenda, S. 351.

(9) Weiteres > “Der Wille” - “Das Ding an sich” und
> Der metaphysische Wille .

(10) Deirdre Bair, C. G. Jung . Eine Biographie.
 Aus dem Amerikanischen von Michael Müller,
München 205, S. 786 f.

(11) Ebenda.
Weitere Erläuterung des Begriffes Synchronizität
in: Erinnerungen, a. a. O., S. 416 f.

(12) Arthur Hübscher, Denker gegen den Strom.
Schopenhauer : Gestern-Heute-Morgen, 2. Aufl.,
Bonn 1982, S. 271
.
(13) Zit. von Sigmund Freud aus:
Über Arthur Schopenhauer.
 Hrsg. von Gerd Haffmans, 3. Aufl., Zürich 1981, S. 219.

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