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Arthur Schopenhauer

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Buddenbrooks und Schopenhauer

 Fortsetzung von > Thomas Mann über Arthur Schopenhauer

In seinem Essay über Arthur Schopenhauer bekannte Thomas Mann, wie sehr er in     der Jugend von Schopenhauer geprägt wurde. Es waren besonders Arthur Schopenhauers tiefe  Einsichten und sprachlich meisterhaften Worte über den Tod, die sich in Thomas Manns wohl bekanntestem und oft verfilmtem Roman Buddenbrooks wiederfinden. Dazu schrieb   er in seinem Essay:

“ ´Wer sich für das Leben interessiert`, habe ich im ´Zauberberg` gesagt, ´der interessiert sich namentlich für den Tod`. Das ist die Spur Schopenhauers, tief eingedrückt, haltbar für das Leben. Es wäre auch schopenhauerisch gewesen, wenn ich hinzugefügt hätte: ´Wer sich für den Tod interessiert, der sucht in ihm das Leben`; und ich habe es, wenn auch weniger epigrammatisch, gesagt: als ganz junger Dichter, als es galt, den Helden meines Jugendromans, Thomas Buddenbrook, zu Tode zu bringen, und als ich es ihm gönnte, jenes große Kapitel ´Über denTod` zu lesen, unter dessen frischem Eindruck ich eben selbst, der dreiundzwanzig- oder vierundzwanzigjährige Autor, stand. Es war ein großes Glück, und in meinen Erinnerungen habe ich gelegentlich davon erzählt, daß ich ein Erlebnis wie dieses nicht in mich zu verschließen brauchte, daß eine schöne Möglichkeit, davon zu zeugen,  dafür zu danken, sofort sich darbot, dichterische Unterkunft unmittelbar dafür bereit war. Ihm, dem leidenden Helden meines Bürger-Romans, des Werkes, das Last, Würde, Heimat und Segen meines Jünglingsalters war, schenkte ich das teure Erlebnis, das hohe Abenteuer, in sein Leben, dicht vor dem Ende, wob ich es erzählend ein und ließ ihn im Tode das Leben finden, die Erlösung aus den Fesseln seiner müden Individualität, die Befreiung von einer Lebensrolle, die er symbolisch genommen und mit Tapferkeit und Klugheit repräsentiert, die aber seinem Geist, seinem Weltverlangen niemals genuggetan hatte und ihm ein Hindernis gewesen war, etwas anderes und Besseres zu sein.” *

 Die folgenden Auszüge aus Buddenbrooks , die Gedanken, die tiefe Ergriffenheit des Thomas Buddenbrook vor dem Tod, stehen ganz im Zeichen Arthur Schopenhauers :

“ Hier aber war es, in diesem Pavillon, in dem kleinen Schaukelstuhl aus gelbem Rohr, wo er eines Tages vier volle Stunden lang mit wachsender Ergriffenheit in einem Buche las, das halbgesucht, halb zufällig in seine Hände geraten war . . . Nach dem zweiten Frühstück, die Zigarette im Munde, hatte er es im Rauchzimmer, in einem tiefen Winkel des Bücher- schrankes, hinter stattlichen Bänden versteckt, gefunden und sich erinnert, daß er es einst vor Jahr und Tag beim Buchhändler zu einem Gelegenheitspreise achtlos erstanden hatte:  ein ziemlich umfangreiches, auf dünnem und gelblichem Papier schlecht gedrucktes und schlecht geheftetes Werk, der zweite Teil nur eines berühmten metaphysischen Systems. .. . Er hatte es mit sich in den Garten genommen und wandte nun, in tiefer Versunkenheit, Blatt um Blatt. . .

Eine ungekannte, große und dankbare Zufriedenheit erfüllte ihn. Er empfand die unvergleichliche Genugtuung, zu sehen, wie ein gewaltig überlegenes Gehirn sich des Lebens, dieses so starken, grausamen und höhnischen Lebens, bemächtigt, um es zu bezwingen und zu verurteilen . . . die Genugtuung des Leidenden, der vor der Kälte und Härte des Lebens sein Leiden beständig schamvoll und bösen Gewissens versteckt hielt und plötzlich aus der Hand eines Großen und Weisen die grundsätzliche und feierliche Berechtigung erhält, an der Welt zu leiden - dieser besten aller denkbaren Welten, von der mit spielendem Hohne bewiesen ward, daß sie die schlechteste aller denkbaren sei.

Er begriff nicht alles; Prinzipien und Voraussetzungen blieben ihm unklar, und sein Sinn, in solcher Lektüre ungeübt, vermochte gewissen Gedankengängen nicht zu folgen. Aber gerade der Wechsel von Licht und Finsternis, von dumpfer Verständnislosigkeit, vagem Ahnen und plötzlicher Hellsicht hielt ihn in Atem, und die Stunden schwanden, ohne daß er vom Buche aufgeblickt oder auch nur seine Stellung im Stuhle verändert hätte.

Er hatte anfänglich manche Seite ungelesen gelassen und rasch vorwärtsschreitend, unbewußt und eilig nach der Hauptsache, nach dem eigentlich Wichtigen verlangend, sich nur diesen oder jenen Abschnitt zu eigen gemacht, der ihn fesselte. Dann aber stieß er auf ein umfängliches Kapitel, das er vom ersten bis zum letzten Buchstaben durchlas, mit festgeschlossenen Lippen und zusammengezogenen Brauen, ernst, mit einem vollkommenen, beinahe erstorbenen, von keiner Regung des Lebens um ihn her beeinflußbaren Ernst in der Miene. Es trug aber dieses Kapitel den Titel: Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich. -

Ihm fehlten wenige Zeilen, als um vier Uhr das Folgmädchen durch den Garten kam und ihn zu Tische bat. Er nickte, las die übrigen Sätze, schloß das Buch und blickte um sich . . . Er fühlte sein ganzes Wesen auf ungeheuerliche Art geweitet und von einer schweren, dunklen Trunkenheit erfüllt; seinen Sinn umnebelt und vollständig berauscht von irgend etwas unsäglich Neuem, Lockendem und Verheißungsvollem, das an erste, hoffende Liebessehnsucht gemahnte. Aber als er mit kalten und unsicheren Händen das Buch in der Schublade des Gartentisches verwahrte, war sein glühender Kopf, in dem ein seltsamer Druck, eine beängstigende  Spannung herrschte, als könnte irgend etwas darin zerspringen, nicht eines vollkommenen Gedankens fähig.

Was war dies? fragte er sich, während er ins Haus ging, die Haupttreppe erstieg und sich im Eßzimmer zu den Seinen setzte . . . Was ist mir geschehen? Was habe ich vernommen? Was ist zu mir gesprochen worden, zu mir, Thomas Buddenbrook, Ratsherr dieser Stadt, Chef der Getreidefirma Johann Buddenbrook . . .? War dies für mich bestimmt? Kann ich es ertragen? Ich weiß nicht, was es war . . . ich weiß nur, daß es zu viel, zu viel ist für mein Bürgerhirn . . .

Was war der Tod? Die Antwort darauf erschien ihm nicht in armen und wichtigtuerischen Worten: er fühlte sie, er besaß sie zuinnerst. Der Tod war ein Glück, so tief, daß es nur in begnadeten Augenblicken, wie dieser, ganz zu ermessen war. Er war die Rückkunft von einem unsäglich peinlichen Irrgang, die Korrektur eines schweren Fehlers, die Befreiung von den widrigsten Banden und Schranken - einen beklagenswerten Unglücksfall machte er wieder gut.

Ende und Auslösung? Dreimal erbarmungswürdig jeder, der diese nichtigen Begriffe als Schrecknisse empfand! Was würde enden und was sich auflösen? Dieser sein Leib ...  Diese seine Persönlichkeit und Individualität, dieses schwerfällige, störrische, fehlerhafte und hassenswerte Hindernis, etwas anderes und Besseres zu sein!

War nicht jeder Mensch ein Mißgriff und Fehltritt? Geriet er nicht in eine peinvolle Haft, sowie er geboren ward? Gefängnis! Gefängnis! Schranken und Bande überall! Durch die Gitterfenster seiner Individualität starrt der Mensch hoffnungslos auf die Ringmauern der äußeren Umstände, bis der Tod kommt und ihn zu Heimkehr und Freiheit ruft . . .” **

Anmerkungen

*     Essay, das Thomas Mann als Vorwort für eine 1938 in
Stockholm erschienene Schopenhauer-Auswahl schrieb.
Neu veröffentlicht in: Über Arthur Schopenhauer .
Hrsg. v. Gerd Haffmans. 3. Aufl., Zürich 1981.
Hier: Thomas Mann , Schopenhauer , S. 113 f.

** Thomas Mann , Buddenbrooks , Berlin 1930, S. 628-631.

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